Queerpolitik 30 Jahre Ende des Strafrechtsparagrafen 175

Progress Pride Flag am Bundesfamilienministerium in Berlin
Progress Pride Flag am Bundesgleichstellungsministerium© Jens Ahner

Am 11. Juni 1994 wurde § 175 StGB endgültig aufgehoben. Erst seit 30 Jahren gibt es in Deutschland keine strafrechtliche Sondervorschrift zur Homosexualität mehr.

Aus diesem Anlass erklärt Sven Lehmann, Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt (Queer-Beauftragter):

"Der § 175 Strafgesetzbuch ist ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte. Dieser Paragraf bedeutete für schwule und bisexuelle Männer staatliche Verfolgung und gesellschaftliche Ächtung. Er zerstörte das Leben von Menschen. Bis 1994 waren homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter wechselnden Tatbestandsvoraussetzungen strafbar.

Das lange Bestehen von § 175 StGB auch in der demokratischen Bundesrepublik führt uns schmerzlich vor Augen, dass unser Grundgesetz in seiner jetzigen Form staatliche Menschenrechtsverbrechen an LSBTIQ* nicht verhindern konnte. Auch lesbischen und bisexuellen Frauen wurde bis in die 1980er das Sorgerecht entzogen und auch sie staatlich und gesellschaftlich diskriminiert.

LSBTIQ* müssen künftig explizit auch durch unsere Verfassung vor Diskriminierung geschützt werden.

Artikel 3 Grundgesetz verbietet Diskriminierung aufgrund von bestimmten Merkmalen wie etwa Geschlecht, Herkunft oder Glaube. Was aber fehlt, ist das Merkmal der sexuellen Identität. Queere Menschen sind die letzte von den Nazis verfolgte Gruppe, die noch keinen expliziten Schutzstatus im Grundgesetz haben. Ein ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Schutz ist wichtig, auch damit bestimmte Errungenschaften, wie die Ehe für alle, nicht wieder zurückgedreht werden können.

Dieses Vorhaben steht im Koalitionsvertrag und wird im Aktionsplan "Queer leben" der Bundesregierung bekräftigt. Wir brauchen für die Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.

Ich begrüße, dass die CDU-geführte Landesregierung in Berlin eine Bundesratsinitiative zur Ergänzung von Artikel 3 angekündigt hat. Auch der CDU-Ministerpräsident von NRW Hendrik Wüst unterstützt dieses Anliegen. Unter dem CDU-Ministerpräsidenten Reiner Haseloff wurde die Landesverfassung von Sachsen-Anhalt bereits ergänzt.

Gerade angesichts zunehmender Angriffe auf LSBTIQ* durch Rechtsextreme und religiöse Fundamentalisten braucht es einen besser verfassungsrechtlichen Schutz. Ich appelliere an den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sich hinter dieses Vorhaben zu stellen und gemeinsam mit uns das Grundgesetz zu ergänzen."

Hintergrund

Seit dem Kaiserreich 1871 stellte § 175 StGB die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern unter Strafe. Der von den Nationalsozialisten verschärfte § 175 bestand in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert fort. Zwischen 1945 und 1969 gab es auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ca. 50.000 bis 60.000 Verurteilungen.

Am 1. September 1969 trat ein Strafrechtsänderungsgesetz in Kraft, das den § 175 StGB liberalisierte, aber nicht aufhob. Völlig gestrichen wurde der § 175 erst mit Inkrafttreten des Neunundzwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetzes am 11. Juni 1994. Seitdem gelten für homo- und heterosexuelle Handlungen in der Bundesrepublik gleiche Schutzaltersgrenzen.

Die DDR war 1950 zur vornazistischen Fassung des § 175 zurückgekehrt, hat aber Homosexualität zwischen Erwachsenen bis 1968 nicht vollständig entkriminalisiert. Von 1968 bis 30. Mai 1989 galten mit § 151 StGB-DDR unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR ging die strafrechtliche Verfolgung einher mit einer gesellschaftlichen Ächtung von Homosexualität.