taz: Frau Spiegel, in wie vielen Ihrer Interviews spielt die Frage nach Ihren vier Kindern eine Rolle?
Anne Spiegel: In fast allen.
taz: Wir würden mal anders beginnen: Gehen Sie als Feministin in den neuen Job?
Anne Spiegel: Ja, absolut. Ich bin Feministin. Das ist für die Aufgabe als Frauenministerin eine ganz gute Voraussetzung.
taz: Was heißt Feminismus für Sie?
Anne Spiegel: In unserer Gesellschaft gibt es in vielen Bereichen immer noch ein eklatantes Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, das sehr viele Facetten hat. Das fängt bei Sexismus an und geht bis zur Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Das ist komplex und strukturell verankert, und das müssen wir ändern.
taz: Das Transsexuellengesetz soll abgeschafft, die Istanbul-Konvention umgesetzt, Familie neu definiert werden. Was wollen Sie als Erstes anpacken?
Anne Spiegel: Am liebsten natürlich alles gleichzeitig, aber tatsächlich sortieren wir, was davon schnell umsetzbar ist. Gesetzestexte etwa erfordern gute Vorarbeit. Aber die Abschaffung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs, mit dem Frauen stigmatisiert und Ärztinnen und Ärzte kriminalisiert werden, steht zum Beispiel schnell auf dem Programm.
taz: Wie schnell soll das passieren?
Anne Spiegel: Das werde ich in Kürze mit dem Bundesjustizminister besprechen. Auch die Abschaffung des Transsexuellengesetzes betrifft beide Ressorts. Beides können wir schnell anpacken. Auch den Gleichstellungscheck bringen wir bald auf den Weg.
taz: Wie stellen Sie sich den genau vor?
Anne Spiegel: Ich habe einen solchen Check schon als Landesfrauenministerin umgesetzt und mich damit nicht nur beliebt gemacht. Aber ich habe den Job als Bundesfrauenministerin ja nicht, um einen Beliebtheitspreis zu gewinnen, sondern um Frauenpolitik voranzubringen. Bei der Besetzung von Gremien oder Aufsichtsräten mit Landesbeteiligungen habe ich immer alle Vorlagen bekommen, bevor sie ins Kabinett gingen. Wenn sie nicht paritätisch waren, habe ich sie gestoppt.
taz: Und dann?
Anne Spiegel: Im Idealfall wird dann paritätisch besetzt. Im Einzelfall kann man begründen, warum das nicht möglich ist. Aber sofern möglich, bestehe ich auf Parität.
taz: Ist Parität das einzige Kriterium?
Anne Spiegel: Ich denke den Gleichstellungscheck schon weiter als nur innerhalb der Besetzung von Gremien. Wir erarbeiten gerade, wie er im Bund genau wirken kann. Es wird jedenfalls nicht reichen, dass irgendwo in der Vorlage ein Satz steht, dass die Auswirkungen auf Frauen berücksichtigt wurden.
taz: Ihr Staatssekretär Sven Lehmann hat die Kindergrundsicherung als große sozialpolitische Reformvorhaben der gesamten Bundesregierung bezeichnet. Was genau soll da passieren?
Anne Spiegel: Die Kindergrundsicherung wird ein Paradigmenwechsel sein. Es gibt hierzulande etwa 150 Familienleistungen, da blickt kein Mensch durch. Es braucht eine Leistung, die nach der Geburt eines Kindes schnell und unbürokratisch an Familien ausgezahlt wird, nach einem digitalen Antrag. Einen Garantiebetrag bekommen dann alle Kinder. Ein Zusatzbetrag kommt einkommensabhängig obendrauf. Im Effekt führt das dazu, dass wir mehr Kinder und Familien aus der Armut holen.
taz: Wie hoch muss der Betrag sein, damit die Kindergrundsicherung ein Fortschritt ist?
Anne Spiegel: Da kann ich Ihnen momentan noch nichts Genaues sagen, das ist komplex.
taz: Gibt es eine Mindesthöhe?
Anne Spiegel: Auch da möchte ich mich noch nicht festlegen.
taz: Besteht die Gefahr, dass der kombinierte Betrag unter dem liegt, was man bisher über die Einzelleistungen beantragen kann?
Anne Spiegel: Nein. Wir werden eine Kindergrundsicherung einführen, die ganz konkrete Fortschritte bringt. Wir wollen vor allem den Kindern und Familien helfen, die Unterstützung besonders brauchen.
taz: Sie haben eine Soforthilfe für von Armut betroffene Kinder angekündigt und gesagt, sie wird nicht im einstelligen Bereich liegen. Das heißt, sie wird zweistellig?
Anne Spiegel: Ja.
taz: Wie hoch genau? Und einmalig oder monatlich wiederkehrend?
Anne Spiegel: Den Sofortzuschlag bringe ich in enger Zusammenarbeit mit dem Bundessozialminister Hubertus Heil auf den Weg. Wie hoch der Sofortzuschlag sein wird und ob er monatlich oder jährlich ausgezahlt wird, werden wir jetzt erarbeiten. Wichtig ist, dass der Sofortzuschlag unbürokratisch und einfach ausgezahlt wird. Mit dem Sofortzuschlag helfen wir von Armut betroffenen Kindern, bis wir die Kindergrundsicherung eingeführt haben. Denn das geht nicht von heute auf morgen.
taz: Nicht nur Hubertus Heil, auch Christian Lindner hat da als Finanzminister ein Wörtchen mitzureden. Ist das Geld für eine nennenswerte Erhöhung überhaupt da?
Anne Spiegel: Für die Kindergrundsicherung soll es eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesfamilienministeriums geben. Hubertus Heil wird mit seinem Ministerium Teil davon sein, das Bundesfinanzministerium ebenso.
taz: Sie haben vorhin gesagt, dass man sich als Frauen- und Familienministerin nicht nur beliebt macht. Gegen manche Liberalisierung formiert sich schon Widerstand, zum Beispiel gegen die Abschaffung des Transsexuellengesetzes.
taz: Was bedeutet das für Sie?
Anne Spiegel: Themen der sexuellen Selbstbestimmung sind für mich eine Frage der Haltung. Das hat immer Potenzial zur Gegenwehr. Auch als Ministerin für Integration habe ich zum Beispiel von rechts Gegenwehr bekommen, weil ich mich klar für Geflüchtete eingesetzt habe. Das ist nicht der Teil, den ich an meiner Arbeit am liebsten mag, aber er gehört dazu.
taz: Müssen Sie als Ministerin versuchen, auch diese Menschen mitzunehmen?
Anne Spiegel: Für mich ist ein sachlicher, inhaltlicher, mit Argumenten geführter politischer Diskurs eine wahnsinnige Bereicherung. Das ist für mich gelebte Demokratie und Teil des Meinungsbildungsprozesses. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn es inhaltlich mal hart zur Sache geht. Aber wenn etwa vor gynäkologischen Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, Menschen stehen, die ungewollt Schwangere sowie ihre Ärztinnen und Ärzte anfeinden, ist für mich eine rote Linie überschritten. Da werden Menschen diffamiert. Das ist völlig indiskutabel.
taz: Sie selbst sind aufgrund Ihrer Positionen als Integrationsministerin ziemlich heftig angegangen worden und hatten Polizeischutz. Was heißt so etwas für Sie persönlich?
Anne Spiegel: Das war natürlich eine Umstellung. In meiner Heimatstadt ist eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete, da wurde von rechts viel Stimmung gemacht. Es gab Situationen, in denen es gut war, dass das Team da war.
taz: Denken Sie, das entspannt sich als Frauen- und Familienministerin wieder?
Anne Spiegel: Ich habe eine klare Haltung, ich brenne für meine Themen, und bei meiner Grundhaltung bin ich nicht bereit, Abstriche zu machen. Wenn ich damit Gegner auf den Plan rufe, ist das Teil meiner politischen Arbeit. Ich werde meine Projekte mit meinem ganzen Engagement und meiner ganzen Leidenschaft umsetzen.
taz: Der Koalitionsvertrag nennt keine Zahlen für die Frauen- und Familienpolitik - aber dafür einige finanzpolitische Mammutaufgaben. Die Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen zum Beispiel soll vorbehaltlos umgesetzt werden. Wie soll das gehen?
Anne Spiegel: Dass es Kosten nach sich zieht, die Istanbul-Konvention umzusetzen, ist vollkommen klar. Die Frage ist: Wie gestalten wir das? Gehen wir stufenweise vor? Wir legen jetzt mit der Strategie los und wollen den Gewaltschutz als ressortübergreifende Aufgabe wahrnehmen. Den Runden Tisch gibt es schon. Ein Schwerpunkt wird künftig die Finanzierung von Frauenhäusern sein, die wir auf eine solide Basis stellen wollen. Wir werden mehr Personal in Bund und Ländern brauchen. Das geht nur mit mehr Geld.
taz: Es gibt noch eine andere Mammutaufgabe im Koalitionsvertrag: Gleichstellung soll in einem Jahrzehnt verwirklicht werden.
Anne Spiegel: (alle lachen) Dass hier drei Frauenpolitik-erprobte Frauen herzlich lachen, ist klar. Sollten wir das schaffen, hätte ich gern einen goldenen Pokal für dieses Ministerium. Aber im Ernst: Ich werde alles daransetzen, dass wir bei der Gleichstellung vorankommen, aber dass wir da in zehn Jahren ein Häkchen dran machen, da bin ich zurückhaltend.
taz: Es gibt einzelne Projekte auf dem Weg dorthin: Den Gender-Pay-Gap abschaffen, Sorgearbeit fair verteilen …
Anne Spiegel: Ja genau, das gehen wir an. Die gleiche Bezahlung ist total wichtig, aber das Gesetz, das Auskunft über die Bezahlung gibt, ist ein ziemlich zahnloser Tiger. Auskunft ist gut. Aber wir brauchen einen Hebel, damit sich ungleiche Gehaltsstrukturen ändern. Wie der aussehen könnte, das möchte ich diskutieren.
taz: Frau Spiegel, sind Sie Familienministerin, weil Toni Hofreiter gecancelt und dafür Cem Özdemir ins Kabinett geholt wurde?
Anne Spiegel: Das war kein einfacher Tag. Aber in meiner Partei gibt es sehr, sehr viele kluge und geeignete Köpfe - mehr, als es Ämter gab.
taz: Neben den drei Realos Habeck, Baerbock und Özdemir brauchte es noch zwei linke Frauen. Eine davon sind Sie. Für Hofreiter war kein Platz mehr.
Anne Spiegel: Gesetzt waren Annalena Baerbock und Robert Habeck. Alles Weitere war ein Prozess. Für uns ist es jetzt wichtig, nach vorne zu schauen. Meine Partei hat politische Verantwortung in einer Regierung übernommen, und ich kann mich nicht erinnern, dass die Herausforderungen jemals größer waren.