Die Bundesfamilienministerin im Interview mit dem Tagesspiegel

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über die ältere Generation, das Umdenken in Unternehmen und die Pflegeinfrastruktur in Deutschland.

Der Tagesspiegel: Frau Ministerin, Deutschland wird immer mehr zum Land des Langen Lebens. Warum freuen wir uns darüber nicht, sondern sehen die Demografie als Problem?

Kristina Schröder: Das ändert sich gerade, aber es stimmt: Wir haben zu lange nur die Probleme gesehen. Die Debatte ist in drei Phasen verlaufen. Erst wurde der demografische Wandel verdrängt, dann kamen die Untergangsszenarien. Jetzt sind wir in der dritten Phase angelangt, in der wir die Herausforderungen sehen, aber eben auch die Chancen. Für diesen Perspektivwechsel kämpfe ich auch!

Der Tagesspiegel: Was müssen wir tun, um das vorherrschende negative Bild des Alterns zurechtzurücken?

Kristina Schröder: Wir müssen uns vor allem davon verabschieden, dass es nur ein einziges richtiges Bild des Alters gibt. Kein Lebensabschnitt ist jedoch so vielfältig wie das Alter. Was oft übersehen wird, ist, dass wir in der Phase zwischen 65 und 85 einen historisch neuen Lebensabschnitt geschenkt bekommen haben. Die meisten Menschen erleben diesen Abschnitt nicht in Krankheit und Gebrechlichkeit sondern relativ gesund. Meine Eltern mit 68 und 70 etwa sind heute so drauf wie ihre Eltern mit 58 und 60. Das ist ein riesiges Geschenk.

Der Tagesspiegel: Es gibt so viele Mythen über das Alter, eine davon ist, dass Ältere nicht mehr dazulernen. Falsch, wie wir heute wissen. Sie lernen nur anders. Ebenso wissen wir inzwischen, dass Sport oder auch Krafttraining selbst in hohem Alter nach kurzer Zeit hilft, stärker zu werden. Oder dass viele Sozialkontakte und gute Freunde lebensverlängernd wirken. Brauchen wir eine Art Aufklärungskampagne?

Kristina Schröder: Ja, wir müssen alle das Alter neu denken! Etwa beim Thema Sport im Alter haben wir sicher Nachholbedarf. In den USA ist das längst üblich, dass Ältere ins Fitnessstudio gehen. Die Annahme, man müsse sich im Alter schonen, ist nicht immer richtig. Wir wissen inzwischen außerdem, dass Menschen bis ins hohe Alter durchaus lernfähig sind. Wir brauchen Angebote, die auf ihren Bedarf abzielen. Ein wichtiger Schritt wäre bereits, wenn Qualifizierungsmaßnahmen in den Unternehmen in gleicher Weise für die ältere wie für die mittlere und junge Generation angeboten würden.

Der Tagesspiegel: Sie haben sich vor kurzem bei der Seniorengenossenschaft Riedlingen über deren Modell der preiswerten Hilfe von Senioren für Senioren informiert. Sehen Sie darin einen Weg, die Pflegekosten zu senken? Und wenn ja, wie kann man es bundesweit umsetzen?

Kristina Schröder: Es geht nicht in erster Linie darum, die Kosten zu senken. Das ist ein willkommener Nebeneffekt. Es geht darum, dass eine alternde Gesellschaft neue Wege gehen muss. Die jüngeren Alten etwa können sehr viel zur Lebensqualität ihrer wesentlich älteren und gebrechlichen Mitmenschen beitragen - und wollen sich da auch einbringen. Schließlich ist nicht nur die professionelle Pflege wichtig, sondern auch Besuche, das Kontakt halten und kleinere Hilfen. Ich setze auf das Engagement der jungen Alten - und ihren großen Erfahrungsschatz.

Der Tagesspiegel: Eine Studie des ZEWs hat vor kurzem zum ersten Mal nachgewiesen, dass gute nachbarschaftliche Beziehungen und ein positives Wohnumfeld mit viel Kontakt die Pflegekosten um bis zu 30 Prozent senken kann - vor allem deshalb, weil die Menschen dabei länger aktiv bleiben. Was kann, was muss die Politik tun, damit sich solche Erkenntnisse schnell umsetzen lassen?

Kristina Schröder: Die Menschen sind bereit, sich zu engagieren - wir müssen ihnen dafür den Raum geben. Deshalb will ich etwa die Freiwilligendienste für alle Generationen anbieten. Auch die Mehrgenerationenhäuser könnten hier ein Dreh- und Angelpunkt sein. Ältere Menschen möchten so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Die ambulante Versorgung ist also deshalb einer stationären vorzuziehen weil die Menschen das so wollen. Unser Programm Soziales Wohnen etwa zielt darauf, diesen Grundsatz stärker als bisher in die Praxis umzusetzen.

Der Tagesspiegel: Manche Städte werben inzwischen sehr bewusst um ältere Mitbürger. Wie finden Sie diese Tendenz hin zu Seniorenstädten? Oder gar Seniorensiedlungen?

Kristina Schröder: Da bin ich skeptisch - die Gesellschaft verliert an Vielfalt, wenn die unterschiedlichen Gruppen nicht zusammenleben. Stuttgart geht einen anderen Weg, da wird quasi neben jedes Seniorenheim eine Kita eingebaut. Das sind die Modelle der Zukunft.

Der Tagespiegel: Wie vorbereitet ist die Masse der Städte und Kommunen auf die demografischen Veränderungen?

Kristina Schröder: Vor Ort spüren wir den demografischen Wandel am stärksten. Viele Kommunen haben bereits Strategien entwickelt, zum Beispiel die Gemeinde Arnsberg. Dort werden ältere Menschen, die aus dem Berufsleben ausscheiden, gezielt angesprochen, sich in der Gemeinde zu engagieren.

Der Tagesspiegel: Wie sieht es bei den Firmen aus? Welcher Prozentsatz ist darauf vorbereitet, dass die Mitarbeiterschaft sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark verändern wird?

Kristina Schröder: Auch hier findet definitiv ein Umdenken statt. Ich kenne viele Firmen, die hier an neuen Programmen arbeiten und die Arbeitsumwelt altersfreundlich umgestalten und auch andere Arbeitszeitmodelle anbieten. Bosch ist so ein Beispiel, der Konzern bietet seinen Mitarbeitern bereits eine Pflegepause an - oder auch Boeringer Ingelheim. Einen anderen Weg geht die Firma BMW - dort stellte ein Produktionsbereich ein Team zusammen, das der künftig zu erwartenden Alterszusammensetzung entspricht. Die Arbeitsbedingungen wurden verändert und an die Bedürfnisse dieser älteren Belegschaft angepasst. Das Ergebnis: Die Belegschaft erreichte eine genauso hohe Produktivität wie alle anderen Teams.

Der Tagesspiegel: Sie haben vor kurzem Ihre Überlegungen für eine Pflegezeit präzisiert. Wann können wir damit rechnen, dass dies im Gesetzblatt steht und umgesetzt wird?

Kristina Schröder: Ich habe mir vorgenommen, das Gesetz im Herbst ins Kabinett zu bringen - wir haben keine Zeit zu verlieren!

Der Tagesspiegel: Mit welchen Zahlen rechnen Sie, was die Inanspruchnahmen angeht?

Kristina Schröder: Wir wissen, dass es heute schon 2,3 Millionen Pflegebedürftige gibt und gehen von drei Millionen in zehn Jahren aus. Die Mehrheit der Pflegenden ist inzwischen berufstätig, das war vor einigen Jahren noch anders. Sie sehen also die Größenordnungen. Diese Menschen müssen eine Möglichkeit bekommen, Pflege und Beruf zu vereinbaren.

Der Tagesspiegel: Wie zufrieden sind Sie mit der Qualität und Transparenz der Pflegeinfrastruktur in Deutschland?

Kristina Schröder: Wir haben in Deutschland eine sehr differenzierte Pflegeinfrastruktur mit einer Vielzahl unterschiedlicher Pflege- und Hilfsangebote. Die Hauptaufgabe wird künftig darin liegen, diese Angebote miteinander zu verbinden und auf die Bedürfnisse der Menschen abzustimmen. Und: Es ist für jeden, der mit einem Pflegefall konfrontiert ist, ganz wichtig, dass er objektive und verlässliche Auskünfte zur Qualität der Einrichtungen bekommt. Deshalb ist alles wichtig, was auf der Basis belastbarer Vergleichskriterien, bei denen die Pflegequalität im Vordergrund stehen muss, Transparenz für die Verbraucher schafft. Hier gibt es sicher noch Diskussionsbedarf.

Der Tagesspiegel: Müsste es nicht zentrale Anlaufpunkte geben, die Menschen beraten, deren Familienmitglieder überraschend zum Pflegefall werden?

Kristina Schröder: Richtig, etwa beim Thema Demenz. Deshalb starte ich in Kürze ein umfangreiches Online-Angebot für alle, die sich hier gut informieren wollen. Das Internet-Portal "Wegweiser Demenz" bietet darüber hinaus auch Platz für den Austausch mit Betroffenen. Wir dürfen nicht nur über Menschen mit Demenz sprechen - sondern vor allem auch mit ihnen! Einige Krankenkassen haben hier auch schon Hotlines geschaltet, die rund um die Uhr ansprechbar sind.

Der Tagesspiegel: Auch was die Pflegebedürftigkeit der Deutschen angeht, scheint die Wahrnehmung oft verzerrt zu sein. Warum wissen so wenige, dass das Risiko vor allem bei sehr Hochbetagten über 85 Jahre stark zunimmt? Und dass der weit überwiegende Teil der Älteren, nämlich neun von zehn nach dem jüngsten Altersbericht der Regierung, in den eigenen vier Wänden lebt?

Kristina Schröder: Der neue Altersbericht der Regierung dreht sich genau um das Thema Altersbilder - und die sind wie gesagt vielfältig. Was zum Kulturwandel beitragen wird, sind auch die vielen Unternehmen, die es sich nicht mehr leisten können, auf ihre älteren Mitarbeiter zu verzichten. Die Frühverrentung mit 55 war ein unglaublicher Irrweg. Wenn in den Unternehmen die Leute bis 67 arbeiten, wird auch den Jüngeren klar werden, dass man mit 67 noch nicht pflegebedürftig ist.

Der Tagesspiegel: Wie können Senioren etwa für Bürgerarbeit aktiviert werden? Welche Vorbilder für das Zusammenleben der Generationen gibt es jetzt schon?

Kristina Schröder: Da gibt es ganz wunderbare Projekte, beispielsweise die Lesepaten für Migranten. Auch bei dem Versuch, die männlichen Rollenvorbilder in den Kitas zu stärken, können wir auf die Senioren nicht verzichten. Wenn der Tischler oder Handwerksmeister im Ruhestand mit den Kleinen Vogelhäuser bastelt - das wäre doch eine fantastische Sache. Das ist ein großer Schatz, den wir heben müssen.

Der Tagesspiegel: Sind die Rahmenbedingungen dafür schon in Ordnung?

Kristina Schröder: Wir arbeiten gerade am Freiwilligendienst-Statusgesetz, um etwa die Versicherungen besser zu regeln. Gewisse Mindeststandards müssen zum Wohle der Freiwilligen einfach gesichert sein.

Der Tagespiegel: Sie sind die jüngste Ministerin im Kabinett. Wen haben Sie vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie an Senioren denken?

Kristina Schröder: Meine eigenen Eltern. Sie gehen ins Fitnessstudio, machen am Wochenende Radtouren und unterstützen mich, wenn ich zum Beispiel umziehe. Dass man in diesem Alter nichts mehr leisten kann - das zu behaupten ist doch absurd!

Das Interview erschien am 12. September im Tagesspiegel. Das Gespräch führte Margaret Heckel.