Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen im Interview mit dem Tagesspiegel zum geplanten Elterngeld, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und über die Rolle des Staates bei der Unterstützung benachteiligter Kinder.
Tagesspiegel: Frau von der Leyen, kaum sind Sie als Familienministerin im Amt, scheiden sich an Ihrer Politik und an Ihrer Person schon die Geister. Warum provozieren Sie mehr als Ihre Amtsvorgängerin Renate Schmidt (SPD)?
Ursula von der Leyen: Renate Schmidt hatte schon die Phase mit kleinen Kindern hinter sich, als sie Ministerin wurde. Ich stecke noch mitten drin. Ich versuche jeden Tag, meine sieben Kinder und ein politisches Spitzenamt unter einen Hut zu bringen. Weil ich eine öffentliche Person bin, vergleichen viele Menschen ihr eigenes Leben mit meinem. Das wäre anders, wenn meine Kinder schon aus dem Haus wären und ich etwa Enkelkinder hätte.
Tagesspiegel: Warum sollte es Menschen stören, dass Sie versuchen, Beruf und Familienleben unter einen Hut zu bringen?
Ursula von der Leyen: Die Öffentlichkeit hat ein verkürztes Bild meines wirklichen Lebens. Keiner bekommt mit, dass mein Alltag mit ganz banalen Problemen behaftet ist: Wie bekomme ich den Tag mit meinen Kindern hin, ohne dass ich etwa die Vorbereitung einer Kabinettssitzungen vernachlässige? Wie übe ich trotz meiner neuen Aufgabe mit den Kindern für die Klassenarbeiten, die sie vor Weihnachten noch schreiben müssen?
Tagesspiegel: Sie haben sieben Kinder, Ihr Vater war Ministerpräsident von Niedersachsen. Provozieren Sie, weil Sie der Norm so wenig entsprechen?
Ursula von der Leyen: Ich möchte gar nicht provozieren. Ich möchte in diesem Land etwas bewegen. Sicher ist mein Lebenslauf anders als der vieler anderer Frauen. Ich komme aus einer sehr traditionellen Familie: Mein Vater war für das Familieneinkommen zuständig, meine Mutter blieb zu Hause und kümmerte sich um uns Kinder. Mit dieser Rollenteilung waren meine Eltern sehr glücklich. Ich selbst empfinde meine Familie auch als ein Geschenk, lebe aber in einer anderen Rollenverteilung. Es gibt heute die klassische männliche Berufsbiografie nicht mehr, Frauen haben uneingeschränkt Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt - das ist eine große Errungenschaft. Das schafft neue Optionen, so dass die Geschlechter ihr Rollenverständnis neu ordnen müssen, wenn in dieser globalisierten Welt Kinder noch Raum haben sollen.
Tagesspiegel: Sie bekommen häufig vorgehalten, Sie hätten es einfacher als andere Mütter, weil Sie wohlhabend seien, Ihr Ehemann Unternehmer sei…
Ursula von der Leyen: Wie? Mein Ehemann Unternehmer? Mein Mann ist Arzt und Wissenschaftler! Ich bitte Sie! Das Unternehmen müssen Sie mir zeigen, das uns gehört, - abgesehen von dem kleinen mittelständischen Familienbetrieb, der sich aus neun Personen, zwei Ponys, zwei Ziegen und einem Hund zusammensetzt...
Tagesspiegel: Wie gehen Sie mit solchen Vorwürfen um?
Ursula von der Leyen: Ich werbe leidenschaftlich darum, dass wir Kinder und die Freuden und Probleme, die sie mit sich bringen, nicht weiterhin so konsequent aus dem Arbeitsleben ausschließen und so die Eltern vor allem mit den Problemen alleine lassen. Deshalb bin ich als Familienministerin mit meinem eigenen Leben, meiner eigenen Familie sehr stark ein Spiegel für das, wofür ich werbe. Das ist manchmal hilfreich. Wir müssen in der Arbeitswelt thematisieren, wo die Probleme liegen, wie man den Arbeitsalltag mit Kindern organisiert.
Tagesspiegel: Das tun Sie am Beispiel Ihres eigenen Lebens?
Ursula von der Leyen: Mein Mann und ich sind nach 18 Jahren Erziehung und mit sieben Kindern erfahrene Eltern. Die schwierigste Zeit meines Lebens war die Anfangszeit der Familie, als ich ebenso wie mein Mann als Assistenzärztin arbeitete. Wir hatten beide Nacht- und Wochenenddienste, gaben uns schichtweise an der Haustür die Schlüssel in die Hand. Als das erste und zweite Kind geboren war, wusste ich einfach nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Aber ich habe Menschen getroffen, die mir Mut machten. Zum Beispiel unsere damalige Tagesmutter, die mir sagte: Schämen Sie sich nicht, haben Sie kein schlechtes Gewissen, sondern sein sie mutig und stolz! Die Kinder lieben ihre Mutter und sie lieben ihre Tagesmutter. Auch wegen meiner eigenen Erfahrung sage ich: Der Staat muss jungen Eltern helfen, das ist die Phase, die am kritischsten ist.
Tagesspiegel: Ist Ihre Politik für Männer provozierender als für Frauen?
Ursula von der Leyen: Im Gegenteil. Viele Männer sind dankbar, dass endlich mal jemand über die Väter spricht. Neue demografische Untersuchungen zeigen: Mehr Männer bleiben kinderlos als Frauen. Für viele Männer ist es schwer, sich ein Leben mit Kind in einer Welt vorzustellen, die die Vaterrolle nicht ernst nimmt. Männer müssen sich das erst erkämpfen. Wir wollen sie durch die Väterkomponente beim Elterngeld unterstützen. Wenn sie Elternzeit nehmen, erleiden sie künftig keinen dramatischen Einkommensverlust mehr.
Tagesspiegel: Am Elterngeld-Vorschlag reibt sich auch mancher in ihrer eigenen Partei. Können Sie das Vorhaben durchsetzen?
Ursula von der Leyen: Das Elterngeld bewegt ganz viele Menschen in Deutschland…
Tagesspiegel: Ihren Parteifreund, den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers zum Beispiel, der es unsozial findet…
Ursula von der Leyen: Die heftigen Reaktionen zeigen, dass das Elterngeld einen wunden Punkt berührt. Es ist eine Tragödie, dass in diesem Land immer weniger Kinder geboren werden. Ich will dafür sorgen, dass die Menschen wieder offener für eigene Kinder werden, und das auch in einer modernen, flexiblen Arbeitswelt. Das Elterngeld signalisiert: Dieser Gesellschaft ist es nicht gleichgültig, ob sich jemand für oder gegen ein Kind entscheidet. Zum ersten Mal soll der Einkommenseinbruch anerkannt und ausgeglichen werden, der mit der Geburt eines Kindes entsteht.
Tagesspiegel: Können Sie das Elterngeld durchsetzen?
Ursula von der Leyen: Das Elterngeld wird kommen. Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir das Elterngeld 2007 einführen. Die Regierung steht geschlossen dahinter.
Tagesspiegel: Kritiker bemängeln, das Elterngeld sei unsozial, weil der Staat Wohlhabende stärker unterstütze als Menschen mit wenig Einkommen.
Ursula von der Leyen: Das Elterngeld ist sozial. Studien zeigen, dass insbesondere Geringverdiener und Alleinerziehende profitieren. Die Arzthelferin oder der Handwerksgeselle haben deutlich weniger Einkommen zur Verfügung, wenn sie ein Kind bekommen. Es ist legitim, dass die Gesellschaft das befristet ersetzt. Schließlich profitieren ja auch alle davon, dass sich andere Menschen für Kinder entscheiden.
Tagesspiegel: Das zweite Gegenargument: Es verstoße gegen die Verfassung, wenn der Staat mitbestimmen wolle, wer die Kinder erzieht.
Ursula von der Leyen: Das ist Unsinn. Das Elterngeld wird zehn Monate lang ausgezahlt, unabhängig davon, wer das Kind betreut. Zwei Monate sind reserviert für den anderen Partner, also den Vater oder die Mutter. Wir zwingen keinen dazu, diese beiden Monate zu nehmen. Der Staat übt keinen Zwang aus, er macht ein Angebot. Ein junger Vater, der die Elternzeit nehmen möchte, dem wollen wir mit dem Elterngeld den Rücken stärken. Ich habe bisher keinen ernst zu nehmenden Einwand gegen die Verfassungsmäßigkeit gehört.
Tagesspiegel: Haben Sie das Elterngeld juristisch prüfen lassen?
Ursula von der Leyen: Das Justizministerium prüft es. Die Förderung wird Männern und Frauen unter den gleichen Bedingungen gewährt, da sehe ich keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Tagesspiegel: Muss moderne Familienpolitik Gleichstellungspolitik sein?
Ursula von der Leyen: Ja. In den modernen Wissenschaftsgesellschaften werden mehr Kinder dort geboren werden, wo die Gleichstellung von Mann und Frau weiter fortgeschritten ist. In diesen Ländern können Männer und Frauen ihre Talente im Arbeitsmarkt einbringen und trotzdem ihre Rechte und Pflichten als Eltern wahrnehmen.
Tagesspiegel: Ihre Vorgängerin war Sozialdemokratin. Liegt Ihrer Politik ein anderes Wertebild zugrunde?
Ursula von der Leyen: Meine Politik gründet auf dem christlichen Menschenbild. Damit meine ich die Überzeugung, dass jeder Mensch einzigartig ist und Fähigkeiten hat. Um diese zu entwickeln, braucht er Freiheit zur Entfaltung, Schutz in Not und bestimmte Rahmenbedingungen. Das gilt gerade für die Familie. Wir sind ein Land, das elternfeindlich ist. Eltern und Familie wollen im Prinzip das Beste, was ein Staat sich wünschen kann. Wir machen es ihnen aber sehr schwer. Wir stecken enge finanzielle Grenzen, belasten sie voll bei den Beiträgen zu den Sozialsystemen, obwohl sie Kinder erziehen. In dem Moment, wo eine Familie die Armutsgrenzen verlassen hat, lässt die Gesellschaft sie weitgehend alleine, ohne ausreichend dafür zu sorgen, dass sich Einkommenserwerb und Kindererziehung gut vereinbaren lassen. Wir müssen in Zukunft auch die Frage der horizontalen Gerechtigkeit stellen, also den Vergleich aufmachen zwischen denen, die Kinder erziehen, und denen, die in gleichen Lebensverhältnissen leben, ohne Kinder zu erziehen.
Tagesspiegel: Sie haben angekündigt, Sie wollten sich besonders um solche Kinder kümmern, die unter sehr schlechten Bedingungen groß werden müssen, etwa von Sozialhilfe leben.
Ursula von der Leyen: Ich will drei Akzente in der Familienpolitik nach Kräften vorantreiben. Die erste Säule ist die Unterstützung der jungen Eltern, damit sie überhaupt Mut zum Kind haben. Die zweite entscheidende Säule ist die Frage, wie gestalten wir den Zusammenhalt der Generationen, also das Einbeziehen der älteren Generation in die Mehrgenerationenfamilie. Die dritte Säule betrifft die Kinder, die auf der Schattenseite des Lebens geboren werden. Da schauen wir in Deutschland erst hin, wenn sie durch hohe Aggressivität, hohes Störpotenzial oder Lernverweigerung zum Problemfall werden. Wir wissen heute, dass die Weichen für ein glückliches, erfolgreiches Leben schon in den ersten Monaten gestellt werden.
Tagesspiegel: Ist das ein Plädoyer für eine Ganztagesbetreuung?
Ursula von der Leyen: Die überwiegende Zahl von Familien kommt wunderbar mit ihren Kindern zurecht und kümmert sich so, wie es besser kein anderer machen könnte. Aber es gibt Familien, in denen Kinder wegen Armut, Gewalt oder Drogenabhängigkeit der Eltern seelisch und körperlich verwahrlosen. Dort müssen wir das Wächteramt des Staates früher ausüben. Kinder können ihren Halt auch bei anderen Menschen finden, wenn ihre Eltern völlig überfordert sind. Was früher vielleicht die Großmutter leistete, kann heute eine Familienhelferin ersetzen. Es kann eine Erzieherin sein oder eine Krabbelgruppe, wo Geschwistererfahrung gelernt wird, anstatt dass das Kind zu Hause über Stunden vor dem Fernseher hockt. Wir wollen Strukturen identifizieren und vernetzen, damit diesen Kindern besser geholfen werden kann. Wir haben Hilfsangebote, aber die Hilfe muss früher zu den Kindern kommen.
Tagesspiegel: Frau Ministerin, möchten Sie gerne Vorbild sein für junge Frauen?
Ursula von der Leyen: Ich möchte nicht Vorbild sein, und ich kann auch nicht Vorbild sein. Ich möchte aber Vorkämpferin sein für meine Themen. Dieses Amt ist eine wunderbare Chance, um aufmerksam zu machen auf diese Probleme, aber auch auf die Chancen, die sich ergeben. Nicht nur für die einzelne Familie, sondern für die gesamte Gesellschaft.
Das Interview ist am 18.12.2005 im Tagesspiegel erschienen. Interview: Cordula Eubel und Hans Monath.