Handelsblatt Lisa Paus: "Es ist Zeit für eine Kindergrundsicherung"

Porträt Bundesfamilienministerin Lisa Paus
Bundesfamilienministerin Lisa Paus © Bundesregierung / Steffen Kugler

Handelsblatt: Frau Ministerin, die Inflation in Deutschland liegt inzwischen bei acht Prozent. Wie wollen Sie Familien entlasten?

Lisa Paus: Familien leiden unter den steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen am meisten. Deshalb sind sie auch die Ersten, die eine Entlastung brauchen. Dafür hat die Bundesregierung zwei Entlastungspakete beschlossen. Wir werden genau schauen, wie sie wirken und beraten über weitere Schritte.

Handelsblatt: Aber muss die Politik angesichts der steigenden Preise nicht rasch handeln?

Lisa Paus: Ich sehe schon einen zusätzlichen Bedarf an Entlastungen für Familien. Der Winter mit den hohen Heizkostenrechnungen kommt erst noch. Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen werden darunter besonders leiden. Deshalb müssen alle Entlastungen zielgenau sein und ankommen, wo sie benötigt werden.

Handelsblatt: Sie könnten einen dritten Familienbonus ausschütten.

Lisa PausDas ist eine mögliche Maßnahme. Im Herbst wird der neue Existenzminimumbericht vorgelegt. Ich gehe davon aus, dass wir dann zwangsläufig über Steuerfreibeträge, eine Erhöhung des Kindergeldes und höhere Regelsätze diskutieren werden.

Handelsblatt: Ihre Kabinettskollegen haben bereits konkrete Entlastungsvorschläge vorgelegt. FDP-Chef Christian Lindner will schleichende Steuererhöhungen abbauen. Wäre das aus Ihrer Sicht eine zielgenaue Maßnahme?

Lisa Paus: Von einem Abbau der kalten Progression würden Gut- und Spitzenverdiener am stärksten profitieren. Ich sehe den Rand der Belastbarkeit eher bei anderen Gruppen erreicht. Für viele Menschen kann es um existenzielle Nöte gehen. Da müssen wir ansetzen.

Handelsblatt: Arbeitsminister Hubertus Heil hat ein soziales Klimageld gestaffelt nach Einkommen vorgeschlagen. Was halten Sie von der Idee?

Lisa Paus: Grundsätzlich ist das Klimageld eine gute Idee. Aber eine Auszahlung gestaffelt nach Einkommen über die Lohnsteuer ist nicht trivial, wie wir beim zweiten Entlastungspaket feststellen mussten. Bei allen Maßnahmen ist es wichtig, dass sie die Menschen zielgenau und möglichst unkompliziert erreichen.

Handelsblatt: Sollte für die notwendigen Entlastungen die von Lindner geforderte Einhaltung der Schuldenbremse hintenangestellt und die Schuldenregel 2023 noch einmal ausgesetzt werden?

Lisa Paus: Es ist jetzt noch zu früh, um das sagen zu können. Niemand weiß, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt, welche Folgen der Kurswechsel der Europäischen Zentralbank hat, wie es mit der Konjunktur weitergeht. Entscheidend ist für mich: Bis jetzt hangeln wir uns immer von Einmalzahlung zu Einmalzahlung. Wir brauchen aber strukturelle Entlastungen für Familien. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Wir haben Familien, die extrem gebeutelt sind durch die Coronakrise, durch die Folgen des Ukrainekriegs, durch die Inflation. Deshalb ist es mehr denn je Zeit für eine Kindergrundsicherung.

Handelsblatt: Wie wollen Sie die derzeit 150 Familienleistungen bündeln?

Lisa Paus: Das Kindergeld, die bisherigen Hartz-IV-Leistungen für Kinder, der Kinderzuschlag und Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sollen zusammengefasst werden und möglichst auch der Kinderfreibetrag in der Steuer. Es geht aber nicht um alle Leistungen. Das Elterngeld zum Beispiel soll erhalten bleiben. Auch das Wohngeld könnte bei der Berechnung der Kindergrundsicherung unberücksichtigt bleiben und nur an die Familie gekoppelt werden.

Handelsblatt: Wie soll die Kindergrundsicherung dann konkret aussehen?

Lisa Paus: Fest steht schon, dass es einen einkommensunabhängigen Garantiebetrag für alle Kinder und Jugendlichen geben wird. Zudem soll es einen Zusatzbetrag geben, der vom Einkommen der Familie abhängt. Die Summe muss sich am kindlichen Existenzminimum orientieren. Klar ist, die Kindergrundsicherung soll das Leben aller Kinder spürbar verbessern.

Handelsblatt: Insgesamt sechs Ministerien arbeiten an dem Konzept. Ist das förderlich, um einen Gesetzentwurf zu schreiben?

Lisa Paus: Mittlerweile sind es sogar sieben Ministerien. Wegen der geplanten Digitalisierung ist auch das Innenministerium mit an Bord. Aber die Federführung liegt hier in meinem Ressort. Für die Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zuständig. Ich freue mich, dass alle mitmachen. Das brauchen wir für dieses Großprojekt der Bundesregierung.

Handelsblatt: Ihre Partei, die Grünen, hat schon ein Konzept zur Kindergrundsicherung vorgelegt. Da beträgt der monatliche Garantiebetrag 290 Euro, der Maximalbetrag 547 Euro pro Kind. Sind das die Summen, mit denen Sie hier im Hause rechnen?

Lisa Paus: Die konkrete Höhe der Beträge hängt maßgeblich von der Neuberechnung des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder ab. Hierzu Vorschläge zu machen ist Aufgabe der interministeriellen Arbeitsgruppe, die im März die Arbeit aufgenommen hat. Dabei wird auch die Schnittstelle zum Bürgergeld beachtet, das Anfang 2023 durch das Sozialministerium eingeführt werden soll.

Handelsblatt: Das Institut der deutschen Wirtschaft hat das Grünen-Konzept für die Grundsicherung durchgerechnet und ist auf 20 Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr für den Bundeshaushalt gekommen. Von welcher Summe gehen Sie aus?

Lisa Paus: Es wird was kosten, das ist klar. Wir wollen mit der Kindergrundsicherung unterschiedliche Leistungen zusammenfassen, und es soll für die Kinder auch noch etwas obendrauf kommen. Mehr lässt sich dazu im Moment noch nicht sagen.

Handelsblatt: Aber am Geld wird es nicht scheitern? Da haben Sie keine Sorgen, dass der Finanzminister das auf die lange Bank schiebt, weil die finanziellen Prioritäten nun andere sind, etwa mit Blick auf den Ukrainekrieg?

Lisa Paus: Genauso, wie es unvorstellbar ist, nicht in unsere äußere Sicherheit zu investieren, ist es undenkbar, nicht auch in die innere Stabilität zu investieren. Und die finanzielle Sicherheit ist die Grundbedingung für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land. Deswegen sind wir gut beraten, das Notwendige zu finanzieren.

Handelsblatt: Sie haben eben den Kinderfreibetrag im Steuerrecht angesprochen. Den wollen Sie abschaffen?

Lisa Paus: Die Entlastung durch den Kinderfreibetrag soll perspektivisch durch den Garantiebetrag der Kindergrundsicherung vollständig erreicht werden. So haben wir es auch im Koalitionsvertrag vereinbart. Denn dass die wohlhabendsten Familien die größte staatliche Entlastung für ihre Kinder bekommen, entspricht nicht meiner Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit.

Handelsblatt: Was meinen Sie konkret?

Lisa Paus: Derzeit werden die Eltern mit hohen Einkommen, die den "Reichensteuersatz" von 45 Prozent zahlen, besonders stark entlastet, weil ihre Steuerlast durch den Kinderfreibetrag deutlich sinkt. Sie behalten also über die Steuerersparnis mehr, als Gering- und Normalverdiener über das monatliche Kindergeld erhalten. Da sind die Gewichte nicht richtig. Wir werden schauen, wie wir den sozialen Ausgleich tatsächlich hinbekommen.

Handelsblatt: Hier gibt es verfassungsrechtliche Vorgaben.

Lisa Paus: Das, was wir vorlegen, wird den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten Rechnung tragen. Wir wären ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn die Kindergrundsicherung hinterher von den Gerichten gekippt wird.

Handelsblatt: Gerade haben die Jobcenter, die derzeit einen großen Teil der Familienleistungen abwickeln, Alarm geschlagen: Gewarnt wird vor neuen Doppelstrukturen. Zu Recht?

Lisa Paus: Mit der Einführung der Kindergrundsicherung wollen wir auch Bürokratie abbauen. Jetzt haben wir doch Doppelstrukturen, von Jobcenter und Familienkasse beim Kinderzuschlag zum Beispiel. Das alles ist dermaßen kompliziert, dass nur 30 Prozent der Anspruchsberechtigten den Zuschlag in Anspruch nehmen. Das ist ein Skandal, weil wir allein durch die Systematik verdeckte Kinderarmut tolerieren - und das seit Jahren.

Handelsblatt: Wo sehen Sie die Knackpunkte?

Lisa Paus: Zwei Dinge sind entscheidend: Das eine ist, dass wir uns darauf verständigen können, wie hoch der Garantiebetrag ausfällt und wie der Zusatzbetrag gewichtet wird. Der andere ist, dass wir die Schnittstellen zu anderen Leistungen wie dem Bürgergeld, dem Wohngeld oder dem Bafög gut hinbekommen, sodass die Kindergrundsicherung zu einer digitaltauglichen Leistung wird, die einfach und verlässlich in den Familien ankommt.

Handelsblatt: SPD und Grüne hatten in ihren Wahlprogrammen die Kindergrundsicherung mit der Abschaffung des Ehegattensplittings verknüpft. Aber eine solche Reform kommt nun laut Koalitionsvertrag gar nicht.

Lisa Paus: Ich hätte mir beim Ehegattensplitting mehr vorstellen können. Aber so ist das in Koalitionen. Mit der Abschaffung der Steuerklasse V wurde im Koalitionsvertrag ein erster Schritt vereinbart.

Handelsblatt: Im Herbst könnte eine neue Coronawelle drohen. Haben Sie schon Pläne, Familien, die zuletzt die Hauptleidtragenden waren, zu schützen und zu unterstützen?

Lisa Paus: Auch wenn sich die Coronalage momentan entspannt, schauen wir uns schon jetzt sehr genau an, was im Herbst auf uns zukommen könnte. Die weitgehenden Einschränkungen für Kinder und Jugendliche der vergangenen Jahre dürfen sich nicht wiederholen. Schulen und Kitas müssen offenbleiben. Da ist schon einiges kaputtgegangen: Die wochenlangen Schließungen von Kitas und Schulen haben bei Kindern und Jugendlichen zu Essstörungen, Depressionen, Bewegungsmangel, Einsamkeit und mangelnden sozialen Kontakten geführt. Das sind dramatische Befunde, die uns mittlerweile gemeldet werden. Wir dürfen da nicht wieder so reinschlittern wie bisher.

Handelsblatt: Wie viel Einfluss haben Sie als Bundesministerin, die Länder von zu radikalen Maßnahmen abzuhalten?

Lisa Paus: Ich sehe meine Aufgabe darin, mich als Bundesministerin um alle Familien im Land zu kümmern. Bei allen künftigen Entscheidungen zur Virusbekämpfung muss das Kindeswohl an erster Stelle stehen, dafür setze ich mich mit voller Kraft ein.

Handelsblatt: Frau Paus, vielen Dank für das Interview.