Spiegel Online Manuela Schwesig zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls

Manuela Schwesig, Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel
Manuela Schwesig © Bildnachweis: Bundesregierung / Denzel

Spiegel Online: Frau Schwesig, vor 25 Jahren fiel die Mauer. Sie lebten damals in Brandenburg. Wie haben Sie jenen 9. November erlebt?

Manuela Schwesig: Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich von einem Nachmittag mit Freunden nach Hause kam und die Nachrichten schaute. Wir hatten eines dieser Schwarz-Weiß-Geräte in der DDR-Schrankwand, auf die meine Eltern so stolz waren. In den Nachrichten wurden die Bilder aus Berlin gezeigt, die Menschenmassen. Für mich war das alles aber total surreal.

Spiegel Online: Inwiefern?

Manuela Schwesig: In unserem 6000-Einwohner-Ort war fast alles wie immer, nur wenige Kilometer weiter überschlugen sich in Berlin die Ereignisse. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich dort sah. Wir hatten ja keine Möglichkeit, uns schnell mit Bekannten in Berlin auszutauschen. Es war ja nicht wie heute: Damals hatten wir kein Telefon.

Spiegel Online: Ihr Vater hat als Schlosser gearbeitet, Ihre Mutter in der Verwaltung. Wie ging es Ihren Eltern nach der Wende?

Manuela Schwesig: Für mich hat sich eine riesige Tür geöffnet, für meine Eltern war der Umbruch schwieriger. Mein Vater hat Anfang der Neunzigerjahre seine Arbeit in einem Baubetrieb verloren. Bis dahin kannte ich das Gefühl nicht, dass meine Eltern ernsthafte Sorgen hatten. Das hat mich sehr bedrückt. Plötzlich konnte ich sie nicht mehr um Rat fragen, was meine Zukunft anging. So ging es fast allen in meiner Generation. Jeder war auf sich gestellt - kurz zuvor hatte der Staat viele Entscheidungen vorgegeben.

Spiegel Online: Eine Befreiung. Oder nicht?

Manuela Schwesig: Ja. Und ein großer Umbruch, auch persönlich. Fast keiner meiner Freunde hat schließlich beruflich das gemacht, was er sich ursprünglich vorgestellt hatte. Ich wollte eigentlich Erzieherin werden. Aber meinen Ausbildungsplatz gab es nach der Wende nicht mehr. Bei der Berufsberatung hieß es, ich sei ja gut in Mathe, ich solle mal in die Finanzverwaltung gehen. Und so habe ich Steuerrecht studiert.

Spiegel Online: Was haben Sie für Erinnerungen an Ihre Kindheit in Krippe und Hort?

Manuela Schwesig: Ich bin mit neun Monaten in die Krippe gekommen, meine Eltern waren beide immer berufstätig und haben gemeinsam den Haushalt geschmissen. Das war für mich völlig normal - und ich hatte nie das Gefühl, dass meine Eltern nicht für mich da waren. Meine Mutter ist für einige Jahre immer einen Tag in der Woche zum Studium nach Berlin gefahren. Das waren die tollsten Abende für meinen Bruder und mich. Da gab es immer Bratkartoffeln, das war das einzige Gericht, was mein Vater gut konnte. Aber die waren lecker.

Spiegel Online: Sie haben Ihre Kindheit als behütet empfunden, mit arbeitender Mutter. Gehen ostdeutsche Frauen anders damit um, Familie und Beruf zu vereinbaren?

Manuela Schwesig: Ja, ich habe das Gefühl, ostdeutsche Frauen machen das selbstverständlicher, haben seltener ein schlechtes Gewissen. Bei mir ist es so: Ich habe Eltern und eine Schwiegermutter, die mein Lebensmodell und das meines Mannes verstehen und unterstützen. Das ist bei vielen Frauen in Westdeutschland vielleicht anders. Mein Eindruck ist, dass manchen von ihnen bewusst oder unbewusst immer noch dieses schlechte Gewissen gemacht wird, wenn sie aufgrund des Berufs weniger Zeit zu Hause verbringen.

Spiegel Online: Sie meinen, dass westdeutsche Frauen stärker zerrissen sind?

Manuela Schwesig: Die Zerrissenheit zwischen Beruf und der Familie gibt es immer. Bei mir auch. Ich ertrage es aber nicht, wenn Dritte den Müttern und Vätern noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen machen. Wenn die eigene Mutter das Lebensmodell in Frage stellt, wird es schwierig. Dieses Selbstverständnis ostdeutscher Frauen und vieler ostdeutscher Männer für ein modernes Familienbild ist ein positives Überbleibsel aus der DDR.

Spiegel Online: Es ging der DDR-Führung doch weniger um das Wohl der Frau, als um die Erfüllung einer sozialistischen Produktivitätstheorie. Haben Sie nur schöne Erinnerungen an diese Zeit?

Manuela Schwesig: Natürlich gab es die Ganztagsbetreuung nicht, weil Honecker so ein tolles Gleichstellungsprogramm hatte. Aber das bedeutet ja nicht automatisch, dass der Alltag in Schule oder Kita schlecht war. Das hängt immer von den Erziehern und Lehrern ab, und da hatte ich Glück.

Spiegel Online: Warum sprechen wir eigentlich immer noch von Ost- und Westdeutschen? Haben die Deutschen auch 25 Jahre nach dem Mauerfall die Wende noch nicht verinnerlicht?

Manuela Schwesig: Eine Prägung von 40 Jahre Teilung ist nicht nach 25 Jahren verschwunden. Ich selbst sehe mich als Gesamtdeutsche mit ostdeutschen Wurzeln. Das empfinde ich als Bereicherung: Ich habe eine Diktatur kennengelernt, und daraus erwächst eine tief eingebrannte Wertschätzung gegenüber dem freiheitlichen System, in dem wir heute leben

Spiegel Online: War die DDR aus Ihrer Sicht ein Unrechtsstaat?

Manuela Schwesig: Ich finde diese Diskussion nervig, eine klassische Politiker-Debatte, die an den Menschen völlig vorbei geht.

Spiegel Online: Warum tun sich viele im linken politischen Spektrum so schwer mit der Antwort? Ist sie nicht ganz einfach: Ja, die DDR war ein Unrechtsstaat?

Manuela Schwesig: Die DDR war eine Diktatur, es gab Unrecht, damit war der Staat als System ein Unrechtsstaat. Aber das Problem ist doch, dass sich viele Ostdeutsche in dieser Debatte diskreditiert fühlen. Das klingt so, als sei das ganze Leben in der DDR Unrecht gewesen. Das geht an der Lebenswirklichkeit der Ostdeutschen vorbei. Es gab viele Menschen, die versucht haben, innerhalb dieses schwierigen Systems ein anständiges Leben zu führen. Die Lebensleistung der Ostdeutschen verdient Anerkennung.

Spiegel Online: Verbindet Sie Ihre Herkunft im Kabinett mit Angela Merkel und Johanna Wanka, die ebenfalls ostdeutsche Wurzeln haben?

Manuela Schwesig: Das weiß ich nicht. Ich glaube, dass viele Ostdeutsche pragmatischer sind. Allerdings haben wir auch unterschiedliche Politikstile und Auffassungen zu Themen.

Spiegel Online: Hat Ihre DDR-Biografie noch eine Bedeutung für Ihr politisches Leben?

Manuela Schwesig: In dem, was mich antreibt, hat es eine große Bedeutung. Wenn ich in Umfragen sehe, dass sich nur noch 20 Prozent der Studierenden für Politik interessieren, bin ich regelrecht erschrocken. Ich halte ein Leben in Freiheit und Demokratie nicht für selbstverständlich. Und in der Familienpolitik prägt mich meine Herkunft auch. Ich will keine sozialistischen Kitas. Aber es muss im 21. Jahrhundert möglich sein, dem Wunsch vieler Eltern zu entsprechen und Familie und Beruf zu vereinbaren.