MiGAZIN: Herr Daimagüler, Sie sind der erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Sintizze sowie Roma und Romanja in Deutschland. Waren Sie überrascht, als Sie für dieses Amt angefragt wurden?
Mehmet Daimagüler: Ja, ein bisschen. Ich bin ja nun wirklich zuweilen kein einfacher Typ, bin keiner, der nach einer politischen Pfeife tanzt. Es gehört Mut dazu, jemanden wie mich zu berufen. Deswegen weiß ich auch nicht, ob es die richtige Entscheidung war für mich, es zu machen. Ich bin in einer Phase, wo ich unsicher bin. Wenn ich aber vor die Wahl gestellt werde, entweder diesen Posten zu behalten oder meine Tonlage runterzufahren, dann lasse ich mich jeden Tag mit Freude feuern. Ich werde mit diesem Amt also nicht anfangen, diplomatisch zu werden. Dafür bin ich nicht zu haben.
Ich bin jetzt 54 Jahre alt. In drei Jahren werde ich so alt sein, wie mein Vater, als er gestorben ist. Karrieremäßig will ich in diesem Leben nichts mehr erreichen. Ich lebe gut, aber ich kann auch gut mit weniger leben. Und wenn alle Stricke reißen, packe ich meine Koffer und gehe weg.
MiGAZIN: Wohin? Heimat?
Mehmet Daimagüler: Heimat ist ein Gefühl von Zugehörigkeit, von Geborgenheit, von Schutz. Das habe ich nicht mehr so, weder hier noch woanders. Nur noch variierende Versionen und Intensitäten von Fremdheit, je nachdem, wann ich wo bin. Früher habe ich immer gedacht, ich möchte hier beerdigt werden. Ich möchte beerdigt werden, wo ich geboren bin, in Niederschelden bei Siegen. Das habe ich auch geschrieben in meinem Buch 2011 'Kein schönes Land in dieser Zeit'. Das fühle ich nicht mehr. Heute möchte ich begraben werden in der Türkei, in Istanbul. Neben meinen Eltern, neben meinen Geschwistern. In der Türkei werde ich auch fremd bleiben, aber anders fremd, vielleicht besser fremd. Zumindest würde dort niemand mein Grab schänden, denke ich.
Ich habe in meinem Leben viel realisiert, beispielsweise auch, wie Sinti und Roma behandelt werden von Passanten, vom Ordnungsamt, von der Polizei. Als Deutschtürke aufzuwachsen in Deutschland, das ist nichts für Feiglinge. Aber als Sinto oder Rom aufzuwachsen in Deutschland, das ist noch einmal eine andere Nummer. Es ist unbeschreiblich, welchen Hass und welche Verachtung diese Menschen erleben müssen. Insofern fühle ich mich dem Thema verbunden, schon seit vielen Jahren. Ich habe auch schon viele Betroffene als Anwalt vertreten, habe viele Geschichten gehört, die teilweise sehr schrecklich sind. Daraus lerne ich und beobachte an mir eine wachsende Kompromisslosigkeit: Ich möchte nicht mehr Teil von diesem sprachlichen Bullshit sein, der die Realität übertüncht zugunsten eines Gefühls: 'Wir verstehen uns doch alle im Großen und Ganzen'. Das mag stimmen, aber nur für Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind. Für die anderen sind die Probleme groß.
MiGAZIN: Konkretisieren Sie das bitte!
Mehmet Daimagüler: Ich meine, ich spreche ganz gut Deutsch, habe in Deutschland studiert, ich habe einen Master in Harvard, ich kenne mich mit dem Recht aus. Und wenn ich mir anschaue, mit was für einer rassistischen Scheiße ich mich herumschlagen muss, da frage ich mich: Wie geht es eigentlich Menschen, die als Geflüchtete neu nach Deutschland gekommen sind, die kein Deutsch können, die eine dunklere Hautfarbe haben oder ein Kopftuch tragen, keinen Sozialstatus haben? Wie geht es diesen Menschen? Was erleben sie jeden Tag? Und die Realität ist: Wir wissen es nicht, weil niemand diese Menschen fragt und weil niemand diese Geschichten wissen will. Es ehrt mich deshalb sehr, dass die Menschen mir ihre Geschichten anvertrauen.
MiGAZIN: Als bekannt wurde, dass Sie der Beauftragte werden sollen, kam in der Sinti- und Roma-Community immer wieder die Frage auf: Warum nicht jemand, der selbst einen entsprechenden Hintergrund hat?
Mehmet Daimagüler: Als ich gefragt wurde, ob ich Interesse habe, war das auch meine erste Frage. Ob das nicht jemand machen sollte, der die Community, diese Lebenserfahrung aus erster Hand kennt. Das ist eine legitime und nachvollziehbare Frage.
Es gibt Vor- und Nachteile für und gegen Personen aus der Community. So zum Beispiel, wenn es darum geht, Forderungen zu stellen: Kompensation für den Völkermord, Förderung der Kultur… Es hat eine andere Wirkung, wenn solche Forderungen von jemandem formuliert werden, der nicht selbst betroffen ist, persönlich nichts davon hat.
MiGAZIN: Was waren ihre allerersten Amtshandlungen?
Mehmet Daimagüler: Wichtig waren mir am Anfang der Kontakt zur Community und Gespräche. Das kostet viel Zeit, hat aber absoluten Vorrang. Wir entwickeln derzeit unser Arbeitsprogramm. Zu gegebener Zeit werden wir es der Öffentlichkeit vorstellen und dann an der Umsetzung arbeiten.
MiGAZIN: Wie war Ihre erste Zeit im Amt? Wie wurden Sie von der Sinti- und Roma-Community aufgenommen?
Mehmet Daimagüler: Mir wurde mit großer Neugier, Interesse, aber auch Skepsis begegnet, was mich aber auch nicht verwundert. Diese Menschen haben über Jahrhunderte durchgängig schlechte Erfahrungen mit dem Staat gemacht. In Extremfällen hat der Staat diese Menschen verfolgt und ermordet, in Normalzeiten sich damit begnügt, sie auszugrenzen, ihnen keine Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Ein Staat, der diese Menschen, die Geschädigte und Opfer sind, zu Tätern macht. Deshalb wird versucht, so viel wie möglich Distanz zum Staat zu haben. So und jetzt kommt der Beauftragte der Bundesregierung. Natürlich ist da Skepsis.
Ich habe aber auch viel positives Feedback bekommen: 'Der setzt sich für uns ein'. Aber Vertrauen muss ich mir erst einmal erarbeiten. Was mich sehr erfüllt, sind Gespräche bei Hausbesuchen in privater Umgebung. Da sitzt man teilweise mit zwanzig, dreißig Personen in einer Wohnung, Jung und Alt. Und da werden wahnsinnig spannende Geschichten erzählt, mit denen ich meine Arbeit justiere. Denn ein Programm muss getragen werden von der Community, von den Menschen. Wir müssen wegkommen von diesem Paternalismus, wo der Staat oder die Mehrheitsgesellschaft Minderheiten sagen, was gut für sie sei. Die Menschen wissen selbst, was gut für sie ist, was sie brauchen. Das muss ich abholen und vertreten.
MiGAZIN: Sie wurden wenige Wochen nach Beginn der russischen Militäroffensive in der Ukraine Beauftragter. Viele Menschen sind nach Deutschland geflüchtet, darunter auch viele Roma. Diese Menschen wurden bei der Flucht stellenweise massiv diskriminiert und ausgegrenzt. Wie geht man mit sowas um, wenn man gerade erst neu im Amt ist?
Mehmet Daimagüler: Wenn man so ein Amt antritt, sucht man sich nicht Realität aus, sondern die Realität bestimmt, was man tut. Wir haben den Krieg in der Ukraine und wir haben Geflüchtete aus der Ukraine, die in Deutschland überwiegend mit Offenheit und Wohlwollen aufgenommen werden, was mich sehr freut. Aber wir haben auch Roma unter den Geflüchteten, die selbst auf der Flucht noch rassistisch ausgegrenzt werden und die auch in Deutschland mit Rassismus zu kämpfen haben. Das ist für diese Menschen besonders schlimm.
In der Ukraine haben diese Menschen nur leben können, weil sie ihre Gemeinschaften haben. Sie haben sich immer gegenseitig geholfen. In der Ostukraine gibt es diese Gemeinschaften nicht mehr. Die Männer sind beim Militär, die Frauen sind auf der Flucht. Und die einzigen, die diesen Menschen helfen, sind andere Roma, die selber nicht viel haben. Ich wollte mir kein Fernurteil über diese Menschen in der Ukraine bilden und bin daher selbst hingefahren. Ich wollte wissen, wo die herkommen und was man für sie machen kann.
MiGAZIN: Was haben Sie da gesehen?
Mehmet Daimagüler: Extreme Armut, extreme Ablehnung, extreme Ausgrenzung. Ich habe Menschen in der Nähe von Lemberg besucht. Sie leben im Wald, zum Teil seit 20 Jahren. Diese Menschen brauchen Hilfe. Sie wollen das Land nicht verlassen. Sie brauchen Unterkünfte, jetzt gerade im Winter, Lebensmittel und Schulen für ihre Kinder als Sofortmaßnahmen. Und wir brauchen die Sicherheit, dass von den Hilfen, die wir für die Zivilbevölkerung nach Ukraine schicken, die Roma ihren Anteil bekommen. Das können wir dadurch gewährleisten, dass diese Hilfen direkt über Roma-Organisationen laufen. Es gibt ein ganzes Bündel an Themen, was man machen kann.
Für die Roma in Deutschland brauchen wir besondere Programme für den Schulzugang. Momentan kommen Roma irgendwo in Deutschland an, bleiben ein paar Tage und ziehen dann auf Druck der Umgebung weiter. Wir wissen nicht, ob diese Kinder beschult werden. Wir brauchen sprachliche Angebote für sie. Roma, die aus der Westukraine kommen, sprechen nicht Ukrainisch oder Russisch, sondern sie sprechen Romanes und Ungarisch, das ist deren Muttersprache.
MiGAZIN: In welcher Schuld steht Deutschland bei den Roma in der Ukraine?
Mehmet Daimagüler: Die Deutschen sind 1941, 1942 in die Ukraine eingerückt und haben an vielen Orten Roma verfolgt, sie erschossen, ihre Häuser niedergebrannt, sie besetzt oder als Unterstände benutzt. Die Menschen sind geflohen. Überlebende überlebten, weil sie im Untergrund waren, in Wäldern lebten. Nach dem Krieg kamen sie zurück in ihre Häuser und die Häuser waren weg oder sie wurden von Russen oder Ukrainern bewohnt, die wiederum von woanders vertrieben worden waren. Die Roma wurden daraufhin woanders hin verfrachtet, stießen dann auf Ablehnung von der örtlichen Bevölkerung. Und diese Ablehnung manifestierte sich dadurch, dass sie keine Jobs bekamen, keine Häuser bekamen. Das zieht sich bis heute durch.
Die Wirkungen des deutschen Völkermordes dort sind heute noch so reell. Diese Menschen haben nie wieder Fuß gefasst. Man muss sich das einmal vorstellen: Sinti und Roma gehören zu den wenigen Mensch auf der ganzen Welt, denen es in Deutschland vor der Machtergreifung der Nazis oft wirtschaftlich besser ging als heute. Daraus folgen dann natürlich politische Forderungen.
MiGAZIN: Die wären?
Mehmet Daimagüler: Die gesamte Vergangenheit - also die Verfolgung unter den Nazis und auch die zweite Verfolgung nach dem Krieg, die bis heute zum Teil anhält - muss aufgearbeitet werden von einer Wahrheitskommission. Das ist eine der zentralen Forderungen, die ich habe. Eine Wahrheitskommission, die über die Folgen der Verfolgung berichtet und Schlussfolgerung vorstellt. Die Betroffenen sind nie entschädigt worden.
Und mir ist schon klar, dass sich viele damit schwertun, weil Deutschland hat ja 'so dufte gelernt aus der Vergangenheit, sie bewältigt. Wir haben uns versöhnt.' Seltsam nur, dass von Versöhnung nur selten jüdische Menschen und selten Sinti und Roma sprechen, sondern immer nur deutsche Politikerinnen und Politiker von Versöhnung sprechen, wenn es um den Völkermord geht. Vielleicht sollte man auf die Betroffenen zugehen und sie fragen, ob sie sich versöhnt fühlen.
MiGAZIN: Haben Sie weitere Forderungen?
Mehmet Daimagüler: Wir sind da noch am Anfang. Ich persönlich habe natürlich eine eigene Vorstellung davon, was alles gemacht werden sollte, beispielsweise ein Wohlfahrtverband für Sinti und Roma, so wie wir sie für die jüdische Bevölkerung oder für die Sorben haben. Das ist aber nur ein Mosaikstein, unter vielen anderen Punkten. Zentral ist für alle Themen die Frage, wie stellen wir feste Partizipationsstrukturen für die Community sicher.
MiGAZIN: Sie haben zum Gedenktag am 2. August in Auschwitz gesprochen und dort einen Kranz niedergelegt.
Mehmet Daimagüler: Das war für mich eine sehr berührende Veranstaltung. Denn sie wurde getragen von der Community. Es finden aber viele Veranstaltungen zu Gedenktagen statt, wo Kränze niedergelegt werden in Gedenken an die ermordeten Sinti und Roma, eine halbe Million Menschen, die haben etwas wahnsinnig Verlogenes. Sie achten die Toten und verachten die Lebenden. Sie ehren die Toten und entehren die Lebenden. Und sie machen das mit einem guten Gewissen, weil sie einen so feinen Schnitt machen: '1945 hörte alles auf, und damit ist es kein Problem mehr, es ist ja abgeschlossen.'
So fällt es gar nicht auf, dass die Sprüche, die rassistischen Stereotypen, identisch sind mit der Brandmarkung der Menschen, die wir schon in 1930er Jahren hatten, und die in die Gaskammer von Auschwitz geführt haben. Gleichzeitig wird auf diesen Veranstaltungen versucht, Sinti und Roma in Deutschland das Gefühl zu geben, sie seien hier in Sicherheit. Diese Menschen können sich in gar nicht in Sicherheit wähnen, gerade weil sie wissen, dass der Soundtrack, der ihnen gegenüber läuft, schon mal aufgelegt wurde.