Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen und Katharina Saalfrank (RTL-"Super-Nanny") im BILD-Interview über Karriere mit Kindern, Fernsehen, Computerspiele, Piercings und warum Gewalt in der Erziehung absolut tabu ist.
BILD: Frau Ministerin, Frau Saalfrank, Ist Ihnen bei Ihren Kindern schon mal die Hand ausgerutscht?
Ursula von der Leyen: Ich erinnere mich an eine Situation als ganz junge Mutter. Mein Sohn stand vor mir, schrie und zerrte an meinem Hosenbein, während ich mit meiner Mutter sprach. Ich war erschöpft, genervt und schlug seine Hand weg. Meine Mutter sagte: "Warum investierst du so viel Kraft, um ihn abzuwehren? Er will doch nur deine Aufmerksamkeit! Nimm dir lieber einen kurzen Moment Zeit für ihn." Sie hatte so recht damit, und ich habe diesen Ratschlag später immer beherzigt.
Katja Saalfrank: Die Hand ist mir noch nicht ausgerutscht. Das liegt daran, dass ich mir viele Gedanken darüber gemacht habe, wie es bei mir war, und dass ich es mit meinen Kindern bewusst anders machen möchte. Es gibt diesen Reflex, dass Eltern zuschlagen, wenn sie sich ohnmächtig fühlen. Dieser Reflex hängt meist damit zusammen, dass sie diese Erfahrung selbst in ihrer Jugend gemacht haben. Dies ist ein gelernter Reflex. Als ich das verstanden habe, konnte ich diese Kette durchbrechen.
BILD: Kann man überhaupt unterscheiden zwischen dem "Klaps, der noch niemandem geschadet hat", und Gewalt?
Ursula von der Leyen: Stopp! Jeder Klaps schadet! Ihr Satz stammt aus dem letzten Jahrhundert, und er ist falsch. Züchtigung - oder wie auch immer man das nennen mag - hat in der Erziehung nichts zu suchen.
Katja Saalfrank: Das ist das, was ich auch in meiner Familienarbeit oft besprechen muss! Ich bin immer wieder erschrocken, wenn Jugendliche mir erzählen, in ihrer Familie seien Schläge normal. Fest steht: Es gibt keinen Unterschied zwischen Klapsen und Prügel. Beides ist Gewalt!
BILD: Fast zwei Millionen Kinder unter 15 Jahren wachsen in Hartz-IV-Haushalten auf. Haben diese Kinder die gleichen Chancen wie Kinder von Ärzten oder Anwälten?
Ursula von der Leyen: Nein, haben sie nicht, wenn sie nicht von Anfang an in ihren Fähigkeiten gefördert werden. Bildung hängt in Deutschland immer noch zu stark vom Elternhaus ab - und das ist bitter. Deshalb setze ich mich ja so vehement für den Ausbau der Kinderbetreuung ein. Gerade Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern profitieren davon, weil sie frühzeitig zusammen mit anderen Kindern ihre Talente entwickeln können.
Katja Saalfrank: Ich bin überzeugt: Alle Kinder haben Ressourcen und irgendwelche Stärken. Die Entfaltung hängt von der Art der einzelnen Förderung ab. Es gibt in meinen Augen also keine dümmeren und keine schlaueren Kinder. Jedes hat individuelle Fähigkeiten. Leider kann unser Schulsystem noch nicht genügend darauf eingehen.
BILD: Eine Umfrage hat ergeben, dass 29 Prozent der sozial schwachen Kinder einen eigenen Fernseher haben. In der Oberschicht sind es keine fünf Prozent. Leiden Hartz-IV-Kinder wirklich unter materieller Armut?
Ursula von der Leyen: Kinder nutzen Fernseher und Computer heutzutage ganz selbstverständlich, das hat nichts mit dem Geldbeutel der Eltern zu tun. Die entscheidende Frage ist: Wie viel Zeit dürfen Kinder vor dem Fernseher verbringen? Dafür braucht es feste Regeln. Und die Eltern müssen ihren Kindern Alternativen bieten. Da sind die Möglichkeiten bei ärmeren Familien natürlich begrenzt.
BILD: Wie haben Sie das geregelt?
Ursula von der Leyen: Wir haben nur einen Fernseher für alle, und der ist meistens aus.
Katja Saalfrank: Bei uns ist das auch so. Und wenn, dann schauen wir eher alle gemeinsam fern. Sonntags zum Beispiel die "Sendung mit der Maus" oder die Fußball-Bundesliga.
BILD: Was ist mit Computerspielen?
Ursula von der Leyen: Es kommt darauf an, das Richtige auszusuchen. Es gibt beispielsweise ein Spiel mit Pferden, das lieben meine Töchter. Da es für alle Kinder nur einen Computer gibt, ist die Zeit immer begrenzt.
Katja Saalfrank: Wir haben einen Kinder-Laptop. Aber meine Jungs spielen sowieso ziemlich viel Fußball.
BILD: Würden Sie Ihren Kindern erlauben, sich piercen oder tätowieren zu lassen?
Ursula von der Leyen: Nein! Da würde ich auch einen Streit nicht scheuen. Ein Loch im Nasenflügel geht nie wieder weg. Anders wäre es mit rot gefärbten Haaren oder schrägen Klamotten. Meine Kinder trugen eine Zeit lang diese komischen Plateauschuhe, die wie Bügeleisen unter den Füßen aussahen. Die mussten sie aber von ihrem Taschengeld kaufen.
Katja Saalfrank: Diese Frage stellt sich bei uns nicht wirklich. Die Jungs haben weder an dem einen noch an dem anderen bisher Interesse gezeigt.
BILD: Welchen Rat würden Sie Eltern geben?
Ursula von der Leyen: Verlässlichkeit ist das Allerwichtigste. Kinder müssen wissen, dass ihre Eltern sie so lieben, wie sie sind. Ganz unabhängig davon, wie sie sind und was sie können.
Katja Saalfrank: Wertschätzung und Anerkennung in der Beziehung zu Kindern empfinde ich als wesentlich. Wenn Kinder dies in einer Beziehung spüren, dann können sie über sich hinauswachsen und selbstbewusste Persönlichkeiten entwickeln.
Das Interview ist am 13. Juli 2009 in der BILD-Zeitung erschienen. Das Gespräch moderierten Stephanie Jungholt, Willem A. Tell und Daniel Biskup.