Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung für einen grundlegenden Wandel in der Familienpolitik plädiert.
Süddeutsche Zeitung: Halten Sie es für eine gute Idee, wenn der Staat weniger für Kindergeld ausgibt und damit Betreuung finanziert?
Ursula von der Leyen: Nein. Das Bundesverfassungsgericht sagt eindeutig, höhere Einkommen erhalten durch Kindergeld einen Ausgleich für zuviel gezahlte Steuern. Das ist unantastbar. Kindergeld kürzen - das hieße, auch bei kleinen Familieneinkommen zu kürzen, um damit Betreuung und Bildungsleistungen zu finanzieren. Bildung für kleine Kinder geht uns aber alle an, denn wir alle rechnen damit, dass in Zukunft diese Kinder unsere Renten erwirtschaften und uns pflegen. Kindergärten und frühkindliche Bildung sind die Aufgabe aller Steuerzahler.
Süddeutsche Zeitung: Also brauchen Familien mehr finanzielle Unterstützung?
Ursula von der Leyen: Wir investieren im internationalen Vergleich relativ viel Geld in Familienpolitik. Andere Länder erreichen mit genauso viel oder weniger Geld mehr Wirkung. Der harmonische Dreiklang ist entscheidend: Die Wirtschaft muss Erziehende und Kinder stärker integrieren. Wichtig ist die direkte Unterstützung der jungen Familie, etwa durch ein Elterngeld. Und Kinderbetreuung als Bildungschance wächst in ihrer Bedeutung für einen guten Start ins Leben.
Süddeutsche Zeitung: Ihre Idee, beim Elterngeld zwei Monate für die Väter zu reservieren, hat Empörung ausgelöst. Überrascht Sie das?
Ursula von der Leyen: Mich hat die Tonart bestürzt. Gegenwind ist ja in Ordnung - aber eine Schlagzeile wie "Zwang zur Windel" zeigt eine tiefe Verächtlichkeit gegenüber Tätigkeiten, die wir von jeder Mutter verlangen. Die Vatermonate sind ein staatliches Angebot, das jeder junge Vater nutzen kann: Er kann sich eine Zeit lang intensiver um sein Kind kümmern und erhält dafür ein Einkommen.
Süddeutsche Zeitung: Welches Bild von einer gelungenen Vaterschaft haben Sie denn?
Ursula von der Leyen: Ich habe während unserer Jahre in den USA erlebt, wie gut es war, dass sich mein Mann, weil es dort als selbstverständlich angesehen wurde, täglich Zeit für seine Kinder nahm und sich in den Familienalltag eingemischt hat. Ich musste einige Domänen loslassen, die bis dahin nur ich besetzt hatte. Gleichzeitig gab es mir die Freiheit, mich im Beruf zu engagieren. Die Kinder haben ihren Vater neu entdeckt; auch Konflikte mit den Kindern verteilen sich auf mehrere Schultern.
Süddeutsche Zeitung: Lässt sich das verordnen?
Ursula von der Leyen: Das will ich gar nicht. Doch wir werden dieses Thema stärker thematisieren müssen. Wenn zwei Drittel der jungen Männer sagen, dass ihr Vater kein taugliches Rollenvorbild für sie ist, zeigt das: Wir müssen das Thema des Vaters neu entdecken. Und die Zahlen sind erschreckend: Im Jahr 2005 hatten von den 28-jährigen Frauen 77 Prozent keine Kinder; von den gleichaltrigen Männern waren es 80 Prozent.
Süddeutsche Zeitung: Ist das deutsche Vaterbild weniger modern als das anderer Länder?
Ursula von der Leyen: Wir wissen, dass die Geburtenraten in Ländern stark sinken, in denen die Rollen starr sind, wo Kinder fast ausschließlich Sache der Mütter sind und Väter für das Einkommen sorgen. Deutschland zählt - wie Spanien, Italien, Griechenland - dazu, während skandinavische Staaten, Kanada oder Australien uns einiges voraus haben: Mehr Kinder bei höherer Erwerbstätigkeit von Frauen, geringere Arbeitslosigkeit und geringere Familienarmut. Den Kindern geht es offensichtlich gut dabei. In Bildungsvergleichen schneiden sie besser ab.
Süddeutsche Zeitung: Männer aus CDU und CSU reagieren auf ihre Ideen sehr irritiert.
Ursula von der Leyen: Ich treffe viele ältere Männer, die sagen: "Meine Enkel nehme ich heute viel stärker wahr als meine Kinder damals - jetzt sehe ich, was ich verpasst habe." Das bestärkt mich.
Süddeutsche Zeitung: Dass manche Parteifreunde im Alter von 67 so reagieren, glauben wir. Im Bundestag sitzen aber mehr 47-Jährige. Deren Weltbild kratzen Sie an.
Ursula von der Leyen: Ich finde, jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden. Aber auch 47-jährige Männer wie Frauen spüren vielleicht, dass wir nicht genug Zeit für unsere Kinder haben und dennoch unter unseren Möglichkeiten arbeiten. Kinder in den Alltag einzubeziehen, lässt Menschen über sich hinauswachsen.Außerdem geht es mir um die Jüngeren, die sich heute für eine Familie - oder dagegen - entscheiden. Wir müssen fragen: Was wollen die? Die Antwort ist in den meisten Fällen: Sie wollen eine Perspektive für die Arbeitswelt und für Familienleben.
Süddeutsche Zeitung: Beim Thema der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuung hatten Sie Konflikte innerhalb der Koalition. Wird das beim Elterngeld noch stärker?
Ursula von der Leyen: Ich erwarte nicht, dass die Diskussion verstummt. Ich werbe dabei für einen Blick über die Grenzen: Das Elterngeld ist ein Instrument, das sich im Ausland bewährt hat. Es gewährt jungen Eltern finanzielle Sicherheit im ersten Lebensjahr des Kindes. Das bedeutet auch, dass sich die Eltern Zeit für ihr Kind nehmen können. Die Alternative wäre ein "Weiter so". Aber das hieße nicht, dass wir Familie erhalten. An diesen Irrtum haben wir uns dreißig Jahre lang geklammert, während wir zum kinderärmsten Land geworden sind. Das können wir uns nicht leisten. Der Veränderungsdruck in unserem Land ist ungeheuer hoch. Ich möchte erneuern, um Familie und Familienwerte zu bewahren und wieder lebbar zu machen in der modernen Welt.
Das Interview ist am 20.02.2006 in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Interview von Felix Berth und Jens Schneider.
Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content.