Ursula von der Leyen im Gespräch mit der Tageszeitung DIE WELT: "Kinder machen nicht arm"

Die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen spricht im Interview mit der Tageszeitung DIE WELT über das geplante Betreuungsgeld und die Kernthemen der kommenden Legislaturperiode.

Die Welt: Was ist, Ihrer Ansicht nach, momentan das dringendste familienpolitische Problem Deutschlands?

Ursula von der Leyen: Wir müssen den Generationenvertrag neu definieren und zwar nicht nur als Geldfluss zwischen den Generationen, sondern auch als Austausch von Zeit und Zuwendung. Unter diesem großen Thema ist für mich die Bekämpfung von Kinderarmut das Wichtigste, aber auch der Ausbau des freiwilligen Engagements füreinander.

Die Welt: Kritiker werfen Ihnen vor, Sie würden überwiegend Politik für die Mittelschicht betreiben.

Ursula von der Leyen: Nachhaltige Familienpolitik schafft Perspektiven für alle Eltern, die sich für Kinder entscheiden. Das heißt natürlich auch, dafür zu sorgen, dass Paare, die Kinder erziehen, auch in der Mitte der Gesellschaft bleiben können und nicht wegen ihrer Kinder abrutschen. Familienspezifische Geldleistungen, gute Schulen, genügend Kita-Plätze, Hilfe im Alltag, Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind für die Mitte unverzichtbar und zugleich Grundvoraussetzungen, um mit Kindern auch den Weg aus der Armut zu schaffen.

Die Welt: Glaubt man dem Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin, bekommt vor allem die Unterschicht Kinder - auch, um in den Genuss von Geldleistungen zu kommen. Hat er recht?

Ursula von der Leyen: Nein. Am Anfang steht der fehlende Schulabschluss, keine Ausbildung, kein Job, keine Perspektive. Wenn dann Kinder geboren werden, wird es noch hoffnungsloser, den Unterhalt für mehrere zu verdienen, und die Armut wird zementiert. Nicht Kinder machen arm, sondern Kinder leben in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Sarrazin hat ja gesagt, dass vor allem arme Migranten viele Kinder bekommen. Auch hier macht Bildung und nicht Zuwanderung den Unterschied. Ein Fünftel der Migranten in Deutschland hat Abitur - das ist mehr als bei den Deutschen. Wenn man aber das andere Ende der Skala schaut, nämlich wer keinen Schulabschluss hat, trifft das bei jedem zehnten Migranten zu, aber nur bei etwa jedem 50. Deutschen.

Die Welt: Verstärkt das geplante Betreuungsgeld nicht die Probleme der Unterschicht, auch gerade bei den Migranten?

Ursula von der Leyen: Das Betreuungsgeld soll Erziehungsleistung aufwerten. Das ist grundsätzlich richtig. In sich ist das Konzept aber noch nicht stimmig. Wenn Betreuungsgeld nur gezahlt wird unter der Bedingung, dass ein Kind nicht in eine Kita geht, kann das für manche Kinder den Ausschluss von Förderung bedeuten, die entscheidend ist am Lebensanfang.

Die Welt: Was halten Sie von der Forderung, statt eines Betreuungsgelds lieber Gutscheine auszugeben?

Ursula von der Leyen: Es wäre falsch, Geldleistungen grundsätzlich infrage zu stellen. Nehmen Sie das Kindergeld oder den Kinderzuschlag. Hätten wir die gezielten Geldleistungen für Kinder nicht, wäre das Armutsrisiko von Kindern statt derzeit 14 Prozent doppelt so hoch. Aber wir müssen genau hinschauen, wo Geldleistungen Bildungschancen verhindern und so langfristig Armut zementieren.

Die Welt: Wie weit darf die Politik bei ihrer Einmischung in die Familie gehen?

Ursula von der Leyen: Ich betrachte Politik nicht als ferne Macht. Politisches Handeln ist immer auch Spiegel der Gesellschaft.  Und letztlich geht es ja auch um die Frage des füreinander Einstehens. Beim Thema Kinderschutz gilt zu Recht, dass in erster Linie die Eltern verantwortlich sind. Aber in den wenigen Fällen, wo sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden, sind wir als Gemeinschaft gefragt. Früher waren die Großfamilien oder das Dorf die starken sozialen Instanzen, die das abgefangen haben. Dafür reicht nicht ein Gesetz, da brauchen wir auch Netzwerke.

Die Welt: Von Ihren Plänen, die künstliche Befruchtung bei kinderlosen Paaren zu bezuschussen, findet sich nichts mehr im Koalitionsvertrag.

Ursula von der Leyen: Das bedaure ich sehr. In den Entwürfen stand es noch
drin, ist dann aber gestrichen worden. Damit ist das Thema aber nicht vom Tisch. Wir dürfen Menschen, die sich bei fortschreitenden medizinischen Möglichkeiten verzweifelt ein Kind wünschen, finanziell nicht ganz alleinlassen. Sachsen, das die künstliche Befruchtung bezuschusst, geht da einen vorbildlichen Weg. Wir werden die Frage, dieses Modell bundesweit auszudehnen, trotz begrenzter Mittel in der Diskussion halten.

Die Welt: Sie haben ein umstrittenes Gesetz zur Einrichtung von Blockaden gegen Kinderpornografie im Internet betrieben. Die Koalitionsvereinbarung setzt hingegen auf das Löschen solcher Seiten statt auf das Blockieren. Ist das Gesetz damit hinfällig?

Ursula von der Leyen: Nein, Löschen vor Sperren steht schon im Gesetz drin. Neu ist, dass wir jetzt ein Jahr lang versuchen werden, international kinderpornografische Bilder umgehend im Netz löschen zu lassen. Das schafft erstens Vertrauen in den Prozess und zweitens Transparenz darüber, ob und inwieweit diese Bilder tatsächlich so leicht gelöscht werden können, wie es die Gegner des Gesetzes behaupten.

Die Welt: Das Gesetz ist also nicht vom Tisch?

Ursula von der Leyen: Nein. Wenn das Löschen nicht klappt, ist das Sperren als Ultima Ratio immer noch die bessere Alternative, als Bilder vergewaltigter Kinder frei zugänglich im Netz stehen zu lassen und wegzugucken.

Die Welt: Woran wollen Sie sich am Ende dieser Legislatur messen lassen?

Ursula von der Leyen: Ich glaube, das Wichtigste ist, dass die Bevölkerungsagt, es hat sich der Zusammenhalt der Gesellschaft zum Positiven verändert - dass das Land kinder- und elternfreundlicher ist, dass wir ein neues, positives Bild des Alters entwickelt haben und der freiwillige Einsatz füreinander nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist.

Das Interview ist am 5. November 2009 in der Zeitung DIE WELT erschienen. Das Gespräch führten Miriam Hollstein und Mariam Lau.