Ursula von der Leyen im Interview mit der Berliner Zeitung

Bundesministerin Ursula von der Leyen im Interview mit der Berliner Zeitung über Demografie und die kinderfeindliche Arbeitswelt.

Berliner Zeitung: Frau von der Leyen, Sie haben den Titel Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wären Sie nicht lieber Ministerin für Bevölkerungsentwicklung?

Ursula von der Leyen: Es steht nicht zur Debatte, das Ministerium umzubenennen. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, Ministerium für Zukunftschancen und Generationenzusammenhalt wäre auch treffend.

Berliner Zeitung: Teilen Sie die These des Bevölkerungsforschers Herwig Birg, der in der alternden Gesellschaft soziale Konflikte für unvermeidlich hält?

Ursula von der Leyen: Nein. Es liegt in unserer Hand, ob es zu einem Generationenkrieg kommt, oder ob wir handeln und die Weichen so stellen, dass wir den Zusammenhalt zwischen den Generationen festigen. Wir müssen noch viel mehr erkennen, dass eine Generation die andere braucht.

Berliner Zeitung: Wie wollen Sie das fördern?

Ursula von der Leyen: Einer meiner Schwerpunkte sind die Mehrgenerationenhäuser. Ich habe diese in Niedersachsen ins Leben gerufen, weil es für jede Generation sehr abgeschottete Angebote gibt: Die Altenbegegnungsstätte, das Jugendzentrum, das Mütterzentrum, die Krabbelgruppe, die Selbsthilfegruppe. Mein Bestreben ist, dies unter einem Dach zusammenzuführen. Warum sollen nicht Hausaufgaben von Älteren begleitet werden und die Jüngeren ihnen dafür den Internetzugang erklären?

Berliner Zeitung: Sie wollen die Großfamilie staatlich organisieren?

Ursula von der Leyen: Die Großfamilie schwindet. Das ist eine Tatsache. Wir müssen nun überlegen, wie wir die Prinzipien der Großfamilie in moderne Rahmenbedingungen übertragen können. Die ältere Generation ist ein großer Schatz für unsere Gesellschaft, den wir paradoxerweise nicht abrufen.

Berliner Zeitung: Nicht alle Alten sind gesund...

Ursula von der Leyen: Auch die Hilfebedürftigen profitieren davon, wenn wir den Fokus auf den Kreislauf des Gebens und Nehmens zwischen den Generationen legen. Wenn die alte Frau den Kleinsten vorliest, dann freuen sich nicht nur die Kinder, sondern der alten Frau wird eine einsame Stunde abgenommen. Ein Jugendlicher, der mit einem Alten im Rollstuhl im Park spazieren geht, kann in der Zeit persönliche Geschichten aus dem letzten Jahrhundert hören, die in keinem Buch stehen. Es gilt, den Zusammenhalt von Generationen wieder zu entdecken. Auch vor dem Hintergrund, dass dieser Staat finanziell in einer tiefen Krise steckt und keine milliardenschweren Förderprogramme auflegen kann.

Berliner Zeitung: Hat die Politik zu lange ignoriert, dass die Gesellschaft altert?

Ursula von der Leyen: Der demografische Wandel ist kein deutsches Phänomen. Wir beobachten in allen Wissensgesellschaften, dass mit steigendem Wohlstand weniger Menschen Kinder kriegen. Sie haben mehr Möglichkeiten, wie sie ihr Leben gestalten. Andere Länder haben darauf schneller und pragmatischer reagiert als wir. Die USA, Skandinavien und Frankreich haben gefragt, was die Menschen sich für Rahmenbedingungen wünschen, um in einer modernen, hoch komplexen Welt Kinder zu haben. Diese Länder setzen in der Familienpolitik unterschiedliche Akzente, haben aber eines gemeinsam: Väter und Mütter sind akzeptiert im Arbeitsleben, erhalten dabei mehr Unterstützung und es werden mehr Kinder geboren.

Berliner Zeitung: Sie selbst wurden 1958 geboren und gehören damit zu den geburtenstarken Jahrgängen. Wie stellen Sie sich Deutschland im Jahr 2026 vor, also wenn Sie 67 und Pensionärin sind?

Ursula von der Leyen: Ich hoffe, dass unsere Töchter und Söhne auf eine Arbeitswelt treffen, wo sie einerseits ihre Fähigkeiten entfalten, andererseits aber die Kinder haben können, die sie sich wünschen. Meine eigenen Kinder sind dann Mitte 30. Sie werden für die viel größere Generation ihrer Eltern enorme Verantwortung tragen und dafür hart arbeiten müssen.

Berliner Zeitung: Bleibt dann überhaupt noch Zeit und Kraft für eigene Kinder?

Ursula von der Leyen: Dafür müssen wir heute auf drei Feldern dringend Weichen stellen: Erstens junge Familien brauchen Einkommen, wenn das Geld am knappsten ist, deshalb führen wir ein Elterngeld 2007 ein. Zweitens: Ausbau von Kinderbetreuung und Schulangeboten. Drittens: Wir brauchen eine Wirtschaft, die Erziehende fördert, damit sie Chancen haben, nicht obwohl, sondern weil sie Kinder haben.

Berliner Zeitung: Klingt nett.

Ursula von der Leyen: Das Ausland zeigt, dass es geht und die Unternehmen davon profitieren. In Deutschland kapitulieren immer mehr junge Menschen vor der Frage, wie ihre Perspektive am Arbeitsmarkt ist, wenn sie ein Kind bekommen. Im Moment ignorieren noch viele Betriebe, dass es Kinder überhaupt gibt. Als wären sie Sache einer Privatwelt, die irgendwo auf einem anderen Planeten liegt. Die jungen Menschen sind aber mobil. Wenn sie hier keine Balance zwischen Beruf und Familie finden, ziehen sie weiter. Ärzte zum Beispiel gehen lieber nach England oder Skandinavien, als die Arbeitsbedingungen in Deutschland zu akzeptieren. Wir können es uns nicht leisten, mit unserer Jugend weiter so umzugehen.

Berliner Zeitung: Und was läuft hier noch schief?

Ursula von der Leyen: Über den Dreiklang Einkommen, Zeit und Hilfe, den ich beschrieben habe, hinaus braucht es vor allem ein elternfreundliches Klima - das Wort Rabenmutter gehört aus unserem Wortschatz gestrichen!

Berliner Zeitung: Passen die Frauen sich zu sehr an die männlich geprägte Arbeitswelt an?

Ursula von der Leyen: Nein auf keinen Fall, die Frauen haben ja schon viel erreicht. Das merken Sie daran, dass die Männer aufwachen und anfangen nachzuziehen. Immer mehr wollen keine fernen Väter mehr sein. Sie stoßen dabei aber auf massiven Widerstand in ihren Betrieben, weil sie tradierte männliche Strukturen in Frage stellen.

Berliner Zeitung: Diese Väter-Debatte lenkt nur davon ab, dass Frauen noch immer kaum Aufstiegschancen haben und die Politik auch nichts dafür tut.

Ursula von der Leyen: Die Väter-Debatte lenkt nicht ab, sondern sie ist gut. Sie erweitert den gesellschaftlichen Horizont der Verantwortung für Kinder auf Männer und Frauen. Vereinbarkeitsprobleme können nicht allein auf den Schultern der Frauen gelöst werden, schon weil Kinder ein Recht auf einen präsenten, zugewandten Vater haben. Wir müssen die demografische Entwicklung nutzen und den Spieß umdrehen.

Berliner Zeitung: Wie meinen Sie das?

Ursula von der Leyen: In den nächsten Jahren kommt es in vielen Branchen zum Fachkräftemangel. Dann werden all jene Unternehmen die Nase vorn haben, die familienbewusste Arbeitsstrukturen bieten.

Berliner Zeitung: Aber nicht weil sie das Kinderkriegen fördern wollen, sondern die Frauen als Arbeitskräfte brauchen. Wo ist da der Fortschritt? Trümmerfrauen waren wir schon vor 60 Jahren...

Ursula von der Leyen: Wenn weniger Fachkräfte nachwachsen, steigt der Wettbewerb um junge Talente. Und die Menschen stimmen mit den Füßen ab. Ein Betrieb, der Erziehende aufs Nebengleis stellt, wird Fachkräfte verlieren. Das kostet bares Geld. Diejenigen, die Eltern gezielt fördern, gewinnen nicht nur finanziell, sondern auch Fähigkeiten, die Eltern mitbringen wie Gelassenheit, Organisationstalent, Teamgeist. Eltern sind Zeitkünstler und pragmatisch.

Berliner Zeitung: Eine Ursache der niedrigen Geburtenrat ist, dass wir lange warten mit dem Kinderkriegen und es dann oft zu spät ist...

Ursula von der Leyen: Richtig, wir haben uns in Deutschland eine Insel der Langsamkeit geschaffen.

Berliner Zeitung: Bitte was?

Ursula von der Leyen: Späte Einschulung, zu lange Schul- und Studienzeiten. Ein Hochschulabsolvent geht hier mit 29 Jahren in den Beruf, sein Zeitgenosse in England oder den USA mit 23 Jahren. Deshalb ist es richtig, dass jetzt Abitur nach zwölf Jahren, Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt werden. Jung im Beruf heißt, eher auf eigenen Füßen zu stehen und die Möglichkeit Kinder zu haben.

Berliner Zeitung: Glauben Sie, dass kinderlose Frauen sich von Ihrer Politik vernachlässigt fühlen?

Ursula von der Leyen: Warum?

Berliner Zeitung: Sie weichen aus.

Ursula von der Leyen: Es ist eine ganz große kulturelle Errungenschaft, dass Kinderlosigkeit kein Makel mehr ist. Das Problem ist aber, dass Kinderlosigkeit fast schon zur Voraussetzung für Karriere geworden ist.

Berliner Zeitung: Sie verstehen also nicht, wenn Kinderlose sich inzwischen diskriminiert fühlen?

Ursula von der Leyen: Wir alle - ob mit oder ohne Kinder - verlassen uns darauf, dass eines Tages eine Generation unsere Renten zahlt, uns pflegt, unsere Hand hält, wenn wir sterben. Diese Generation muss geboren und erzogen werden. Das wird nicht gehen, wenn wir Kinderlose gegen Kindererziehende ausspielen. Wir müssen alle die bohrende Frage beantworten, wie wir in Zukunft leben wollen. Ich glaube auch Kinderlose wünschen sich ein Land, in dem es Kinder und junge Menschen gibt.

Das Interview ist am 11. März 2006 in der Berliner Zeitung erschienen. Interview: Regine Zylka.