Bundesministerin Ursula von der Leyen im Interview mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung über Elterngeld und Gleichberechtigung am Arbeitsplatz.
F.A.Z: Frau Ministerin, derzeit wird so intensiv und kontrovers über Familienpolitik diskutiert wie wohl noch nie zuvor. Warum sollte sich denn die Politik überhaupt darum kümmern, ob Menschen Kinder bekommen oder nicht?
Ursula von der Leyen: Weil wir heute die Weichen dafür stellen, wie wir in Zukunft leben werden. Ob wir in einer erstarrten Gesellschaft mit immer weniger Kindern leben werden - und damit auch ohne Innovationen, ohne Risikobereitschaft, ohne Unternehmertum, Entdeckerfreude, Neugierde. Ob wir in einer Gesellschaft leben werden, die nur noch den Mangel verwaltet. Gar nicht zu sprechen von der seelischen Verarmung einer Gesellschaft, in der es keine jungen Menschen mehr gibt, die bereit sind, Verantwortung für die Alten zu übernehmen und sie am Lebensende zu begleiten.
F.A.Z: Wie groß ist der Einfluß des Familienministeriums auf diese Weichenstellungen?
Ursula von der Leyen: Die Akzente und Themen, die wir setzen, können entscheidend dazu beitragen, daß wir den Übergang von der Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft schaffen und zugleich Raum und Zeit für Kinder ermöglichen. Dieses Thema haben wir bisher nicht bewältigt. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes. Gemeinsam mit Mitstreitern in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft können wir hier umsteuern. Politik ganz allein kann nicht die Weichen für ein kinderfreundliches Klima und kinderzentriertes Handeln in unserer Gesellschaft stellen. Dazu braucht es eben alle. Es geht uns ja auch alle etwas an.
F.A.Z: In welche Richtung sollte es denn gehen?
Ursula von der Leyen: Wir sollten uns eng an anderen Ländern orientieren, die ebenfalls beim Übergang in eine Wissensgesellschaft mit einem Rückgang der Geburtenrate zu kämpfen hatten und die erfolgreich eine Trendwende geschafft haben. In Europa sind das beispielsweise die skandinavischen Länder, England und Frankreich. Diese Länder haben gemeinsam, daß dort mehr Kinder geboren werden. Außerdem wird dort Vätern und Müttern bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit einer sehr viel positiveren Haltung begegnet. Diese Gesellschaften bemühen sich, die Struktur so einzurichten, daß auch Zeit für Kinder vorhanden ist - und zwar nicht im Gegensatz zur Erwerbstätigkeit, sondern in Verbindung mit Erwerbstätigkeit. Das ist auch bei uns die Fragestellung der Zukunft.
F.A.Z: Wie wollen Sie zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen?
Ursula von der Leyen: Meine drei Schwerpunkte hierbei sind: Einkommen für junge Familien, wenn die Kinder und die Einkommen klein sind - also beispielsweise das Elterngeld und die Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten -, Ausbau der familienentlastenden Infrastruktur - vor allem der Kindertagesstätten und Kindergärten gekoppelt mit dem Thema frühe Bildung für Kinder -, und die Arbeitswelt: Wir müssen in Wirtschaft und Wissenschaft zu familienbewußten Arbeitsstrukturen kommen und in den Unternehmen ein Bewußtsein dafür schaffen, wie wichtig das ist.
F.A.Z: Das Elterngeld ist ja schön und gut. Doch solange Frauen und Männer sogar für gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt werden, wird es doch dabei bleiben, daß Mütter zu Hause bleiben, Väter hingegen keine Elternzeit nehmen, weil sie einfach mehr verdienen.
Ursula von der Leyen: Das hat Gründe: Bis zum dreißigsten Lebensjahr sind Männer und Frauen in gleichem Maße in Führungspositionen vertreten - und dann kommt der Einbruch. Der Anteil der Frauen in Führungspositionen sinkt über die nächsten zwanzig Jahre auf zwanzig Prozent und verharrt dort. Das ist allein der Tatsache geschuldet, daß Frauen potentiell Kinder haben können und deshalb die Arbeitgeber weniger in sie investieren, ihnen geringe Aufstiegsmöglichkeiten einräumen, weil sie immer erwarten - und das ist sehr deutsch -, daß Frauen mit der Geburt eines Kindes aus dem Beruf aussteigen. Aus Sicht der Arbeitgeber lohnen sich "Investitionen in junge qualifizierte Frauen" also weniger. Dabei könnten sie die Potentiale der jungen Mitarbeiterinnen weiterentwickeln und die Tatsache, daß Kinder geboren werden, positiv in die Unternehmenskultur integrieren. Tatsache ist: Vierzig Prozent der Frauen in Deutschland kehren nach der Geburt eines Kindes nicht mehr in ihren Beruf zurück - obwohl sich 62 Prozent der Frauen mit Kindern unter drei Jahren wünschen zu arbeiten. Bei Frauen mit höherem Schulabschluß liegt dieser Anteil sogar bei 73 Prozent. Hier klaffen Wunsch und Wirklichkeit gewaltig auseinander.
F.A.Z: Kind oder Karriere - das gilt also gerade für Frauen immer noch.
Ursula von der Leyen: Wir müssen uns darüber klarwerden, daß Männer und Frauen in Deutschland arbeiten werden, schon allein wegen des Rückgangs des Arbeitskräftepotentials. Die Frage ist, ob sie noch Kinder haben werden. Bisher ist Kinderlosigkeit fast Voraussetzung für Frauen, Karriere zu machen. Das Ausland macht uns inzwischen vor, daß Unternehmen davon profitieren, wenn sie Raum und Zeit für Kinder schaffen. Sie binden qualifizierte Fachkräfte, die Zeitkünstler sind, organisieren und Prioritäten setzen, die belastbarer, effizienter und teamfähiger durch die Erfahrungen mit Kindern sind.
F.A.Z: Ist es nicht eine Wunschvorstellung, bei voller Berufstätigkeit noch Zeit für Kinder zu haben?
Ursula von der Leyen: Zeitforschungsstudien zeigen, daß skandinavische, englische, französische Mütter das gleiche Budget am Tag von zwei bis zweieinhalb Stunden aufmerksamer Zuwendung und Beschäftigung mit ihren Kindern haben wie die Mütter in Deutschland. Der Unterschied ist nur, daß wir es nicht geschafft haben, den Freiraum für Väter und Mütter in Deutschland auch zu schaffen, gleichzeitig aber erwerbstätig zu sein. Entscheidend ist als Kriterium, daß es den Kindern gutgeht, und wenn wir uns Länder wie Schweden oder Finnland anschauen, so scheint es den Kindern im Bildungsvergleich dort zum Teil besser zu gehen als in Deutschland.
F.A.Z: Mit welchen Ansätzen wollen Sie Gleichberechtigung am Arbeitsplatz fördern?
Ursula von der Leyen: Mit Gesetzen und Vorschriften löst man eher Umgehungsstrategien aus. Ich will überzeugen. Die Unternehmen befinden sich im globalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Und wer innovativ am Markt ist, hat längst verstanden, daß er nur für Arbeitnehmer attraktiv ist, wenn er ihnen eine gute Balance zwischen Beruf und Familie ermöglicht. Denn so binden Unternehmen motivierte und leistungsfähige Mitarbeiter länger und dauerhafter.
F.A.Z: Dennoch scheint manches familienfreundliche Programm eher ein Lippenbekenntnis zu sein denn gelebter Alltag. Wenn man sich beispielsweise den Berufsalltag von Unternehmensberatern anschaut, muß man sich schon fragen, wie jemand, der dreimal die Woche erst um 22 oder 23 Uhr ins Hotelbett fällt, wirklich Familie und Beruf vereinbaren will.
Ursula von der Leyen: Gerade bei Unternehmensberatungen haben inzwischen zwei der Marktführer in Deutschland erkannt, daß sie durch ausgebrannte Mitarbeiter hohe Verluste erleiden. Vor allem verlieren sie in hohem Maße talentierte junge Frauen. Deshalb steuern sie um und wollen gezielt junge Erziehende im Unternehmen halten. Auch weil diese in der Beratung durch ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen besser mit den Kunden umgehen können. Mit einem Unternehmensprogramm wollen wir in diesem Jahr ein Netzwerk von 1000 Firmen schaffen, die sich dieses Managementthemas angenommen haben. Dabei liefern wir ganz pragmatische Bausteine wie Machbarkeitsstudien oder Know-how zu flexiblen Arbeitsmustern oder Betriebskindergärten.
F.A.Z: Das zeigt aber doch auch, daß deutsche Unternehmen dieses Thema lange verschlafen haben.
Ursula von der Leyen: Die deutschen Unternehmen sind ein Spiegel des gesellschaftlichen Klimas in Deutschland. Wir haben uns lange Zeit dem Trugschluß hingegeben, daß alles beim alten bleibt, wenn wir nichts verändern in unseren Einstellungen zur Familie. Dabei weiß jeder, daß Stillstand Rückschritt bedeutet. Das beweisen die dramatischen demographischen Zahlen in Deutschland. Wir haben es versäumt zu überlegen, wie wir das ganz wertvolle Ziel Kinder und Familie unter modernen Bedingungen leben können. Wir können nicht sagen: "Die Welt dreht sich zwar weiter, aber Kinder könnt ihr nur unter den Bedingungen der fünfziger Jahre haben."
F.A.Z: Was empfinden Sie an der Familiendiskussion als spezifisch deutsch?
Ursula von der Leyen: Wir diskutieren immer noch sehr stark darüber, was nicht geht, was unmöglich ist. Wir halten uns damit auf, "Rabenmütter" gegen "Heimchen am Herd" auszuspielen, Einverdienerfamilien gegen Zweiverdienerfamilien zu stellen. Das ist irrwitzig, denn damit stellen wir die wenigen in Konkurrenz, die noch Kinder bekommen. Die Diskussion darüber, was nicht geht und wer schuld ist oder wer sich nicht adäquat verhält, ist zerstörerisch. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir es gemeinsam schaffen wollen, daß junge Menschen mit Kindern in dieser Welt leben können. Junge Menschen sind mobil. Wenn wir diese Rahmenbedingungen nicht schaffen, dann gibt es zwei Möglichkeiten, die wir längst beobachten können: Entweder sie bekommen keine Kinder - oder sie gehen über die nächste Grenze in die Niederlande, nach Skandinavien, nach Frankreich, wo sie arbeiten und die Kinder haben können, die sie sich wünschen.
F.A.Z: Warum sind es immer noch vor allem Frauen, die die Frage beantworten müssen, wie sie Familie und Beruf miteinander vereinbaren?
Ursula von der Leyen: Das ist eine in vielen Jahrzehnten gewachsene Mentalität. Wir werden diese vaterlose Gesellschaft jedoch nicht weiter leben können. Mehr Männer als Frauen schließen inzwischen Kinder in ihrem Leben grundsätzlich aus. Vaterlos kann auch einen fernen Vater bedeuten, der vielleicht am Wochenende dem Kind über den Kopf streicht. Zwei Drittel der jungen Männer sagen jedoch, daß sie anders Vater sein möchten, als sie es erfahren haben - sie möchten vor allem erziehender Vater sein, nicht nur Ernährer. Hier klafft also auch eine Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit, was Vereinbarkeit von Beruf und Familie angeht. Das ist auch unsere große Chance: Nur, wenn Kindererziehung von Vätern und Müttern gleichermaßen ernst genommen wird, wird die Mitte der Gesellschaft Kinder weiter wertschätzen.
F.A.Z: Daher bekommt man das Elterngeld nur in voller Höhe, wenn beide Eltern für eine Zeit die Erwerbsarbeit zugunsten der Kindererziehung zurückstellen - auch wenn es hier Widerstand gibt?
Ursula von der Leyen: Manche beschweren sich darüber, daß das Elterngeld auf ein Jahr begrenzt ist, weil das nicht genügend Zeit für die Kinder sei. Es sind aber häufig dieselben Leute, die behaupten, daß zwei Monate Elternzeit für den Vater unmöglich sein sollen. Das hat etwas Verlogenes. Es kann nicht sein, daß ein- und dieselbe Tatsache von Frauen verlangt und von Männern als unmöglich angesehen wird. Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit einer Gesellschaft.
Das Interview ist am 12.04.2006 in der F.A.Z erschienen. Interview: Alexander Schneider
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv