Ursula von der Leyen im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

F.A.Z: Niemand, der nicht darüber schockiert ist, wie der kleine Kevin ums Leben kam. Sind die Fälle von Kindesmißhandlungen in Deutschland mehr geworden, oder werden wir nur mehr auf sie gestoßen?

Ursula von der Leyen: Wir haben sicherlich eine erhöhte Aufmerksamkeit für diese Fälle. Aber: Sie nehmen doch leicht zu, weil sich unsere Gesellschaft in einer Umbruchsituation befindet. Die ursprünglichen Schutznetze, die Großfamilie, die Dorfstrukturen, die Nachbarschaft, aber auch die Kirche sind nicht mehr selbstverständlich vorhanden. Uns ist es jedoch noch nicht gelungen, in modernen Zeiten verläßliche Netzwerke um die Familien herum zu bilden.

F.A.Z: Sie wollen mit einem Frühwarnsystem verhindern, daß noch mehr Kinder mißhandelt werden. Seit der Regierungsübernahme arbeitet Ihr Haus an so einem Netzwerk. Warum wird es aber erst umgesetzt, wenn wieder ein Kind gestorben ist?

Ursula von der Leyen: Es mußten viele verschiedene Akteure an einen Tisch gebracht werden. Von Kommunen und Ländern über Geburtshilfe, Hebammen, Kinderärzte und Kinderpsychiater bis zur Jugendhilfe, zu Jugendämtern und Kindergärten. Mein Drängen in den vergangenen Monaten war, daß wir diese Akteure miteinander so vernetzen, daß es keine Lücke mehr in der Verantwortlichkeit geben kann. Denn aus Sicht des Kindes arbeiten sie zuwenig abgestimmt. Hier kann der Bund neue Ansätze initiieren. Und wir mußten uns fragen, wie wir diese Problemfamilien früh genug finden. Meine Antwort darauf ist: Wir finden sie bei der Geburt. Jede werdende Mutter nutzt das Gesundheitswesen, damit ihr bei Schwangerschaft und Geburt geholfen wird.

F.A.Z: Darauf verweisen die Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten schon seit zehn Jahren.

Ursula von der Leyen: Genau diese Erfahrungen haben wir ausgewertet und auf das deutsche System übertragen. Mein Hauptanliegen ist, vom Kind her zu denken - und zwar vom Lebensanfang an. Da wir ja nicht alle Kinder begleiten müssen, die in der Bundesrepublik jedes Jahr geboren werden, mußten wir auch erst einmal verläßliche Indikatoren entwickeln, um die gefährdeten Familien zu entdecken, bevor die Spirale von Vereinsamen und Verwahrlosen beginnt. Das können Teenager-Schwangerschaft, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, innerfamiliäre Gewalt, aber auch sozial prekäre Situationen sein.

F.A.Z: In dem Frühwarnsystem spielen die Hebammen eine wichtige Rolle, die Kinderärzte...

Ursula von der Leyen: ...am Anfang sind es vor allem die Geburtshelfer. Aus meiner früheren Arbeit in der Gynäkologie weiß ich, wie intensiv und offen die Beziehungen zwischen einer Schwangeren und den Geburtshelfern sind. Das ist ein ganz wichtiger Zugang, um Vertrauen zu schaffen und bei den jungen Müttern das Verständnis zu wecken, daß wir ihnen helfen und sie nicht stigmatisieren wollen.

F.A.Z: In Deutschland gibt es eine Stadt, nämlich Dormagen, da geht der Sozialdienst in jede Familie, die Nachwuchs bekommen hat. In Dormagen ist allerdings der Vorsitzende des Kinderschutzbundes der Bürgermeister...

Ursula von der Leyen: ...das Grundprinzip ist doch das gleiche: Es kümmert sich eine hochzuverlässige Person darum, daß die Kette der Verantwortlichkeit nicht abreißt. Ob es nun die Familienhebamme, die speziell dafür ausgebildet ist, oder die Sozialarbeiterin ist, hängt von den Strukturen vor Ort ab. Grundsätzlich wollen junge Menschen, die Kinder erwarten, gute Eltern werden. Die große Mehrheit der Eltern kommt auch gut mit ihren Kindern zurecht. Das muß man auch einmal betonen. Das Angebot der Schwangerschaftsvorsorge und -nachsorge wird ja auch gut angenommen.

F.A.Z: Bei manchen Früherkennungsuntersuchungen nimmt die Teilnahme jedoch ab. Sollten diese Untersuchungen obligatorisch werden?

Ursula von der Leyen: Wir sollten uns nicht in falscher Sicherheit wiegen, daß obligatorische Vorsorgeuntersuchungen alleine maßgeblich etwas ändern könnten. Außerdem darf der Staat die Verantwortung nicht auf die Kinderärzte abwälzen.

F.A.Z: Was spricht noch gegen Pflichtuntersuchungen?

Ursula von der Leyen: Eine Pflichtuntersuchung hieße, daß die Eltern und Kinder die einzige Gruppe von Menschen in Deutschland wären, die gesetzlich gezwungen würde, zum Arzt zu gehen. Dagegen gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. Wichtiger, als die Energie nun in verfassungsrechtliche Fragen zu stecken, ist es, dafür zu sorgen, daß die kritischen Familien auch zwischen den Kinderarzt-Besuchen nicht aus dem Auge gelassen werden. Die richtig schwierigen Eltern erreicht man ohnehin nicht mit einer Pflichtuntersuchung. Es geht doch um den Alltag von Kindern. Der ist mehr als eine Kinderarzt-Untersuchung. Die Kinder müssen tagsüber raus aus der Familie, sie müssen andere Kinder erleben und weg vom Fernseher. Die Eltern müssen in Arbeit gebracht werden, damit sie auch wieder soziale Kontakte aufbauen können und sich ihre ganzen Aggressionen nicht gegen das Kind entladen. Das meine ich mit einem wirklich effektiven Netzwerk.

F.A.Z: Zum Schutze des Kindes vor seiner Familie - sollten Kinderrechte Verfassungsrang bekommen?

Ursula von der Leyen: Es geht nicht in erster Linie darum, Kinder gegen ihre Eltern zu stellen, sondern darum, Kinder und Eltern auch in ihrer Beziehung zueinander zu schützen und zu stärken. Wir müssen in der Tat darüber diskutieren, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen. Aber nicht nur im Verhältnis zu den Eltern, sondern auch zum Staat. Der Staat hat wie die Eltern gegenüber den Kindern eine besondere Schutz- und Förderfunktion. Dies wird ein wichtiger, gesamtgesellschaftlicher Diskussionsprozeß werden. Aber ich bin der Meinung, daß die Zeit dafür reif ist.

F.A.Z: An welche Rechte denken Sie da?

Ursula von der Leyen: Unsere Verfassung ist ein klares, grundlegendes Werk auch zum Schutz der Menschenrechte, das Kinder einschließt. So haben wir zum Beispiel das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der Verfassung. Menschen brauchen dazu als Vorbedingung in der Kindheit gewaltfreie Erziehung und frühe Bildung. Das ist spezifisch für das Kind. Nun muß man überlegen, ob solche spezifischen Kinderrechte verankert werden müssen. Ich habe deshalb den Diskurs mit namhaften Verfassungsrechtlern begonnen, wohl wissend, daß wir erst am Anfang stehen.

Das Interview ist am 15.10.2006 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen. Das Interview führte Cornelia von Wrangel.