Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen spricht im Interview mit der Tageszeitung "Passauer Neue Presse" über die Entlastung von Familien 2010, den Kampf gegen Kinderarmut sowie die Verkürzung des Wehrdienstes.
Passauer Neue Presse: 20 Jahre UN-Kinderrechtskonvention: Hat Deutschland hier seine Hausaufgaben gemacht, oder sehen Sie noch Nachholbedarf bei der Umsetzung?
Ursula von der Leyen: Liebevolle Zuwendung, gewaltfreie Erziehung und frühe Bildung von Anfang an sind unverzichtbar in der Kindheit. Die Eltern und der Staat haben gegenüber dem Kind eine besondere Schutz- und Förderfunktion. In unserer Verfassung sind Elternverantwortung und staatliches Wächteramt fest verankert. Und: Für Kinder gelten selbstverständlich auch die Menschenrechte, die unser Grundgesetz garantiert.
Die Frage ist also: Löst die Aufnahme von speziellen Kinderrechten in die Verfassung die Probleme, die es in manchen Familien gibt? Ich meine nicht. Wir müssen ganz konkret die Rahmenbedingungen für Kinder in Deutschland spürbar und nachhaltig verbessern. Daran werde ich weiter mit voller Kraft arbeiten.
Passauer Neue Presse: Zur Arbeit der Bundesregierung: Wie erklären Sie sich den holprigen Start von Schwarz-Gelb?
Ursula von der Leyen: Dass am Anfang Positionen geklärt werden, ist normal. Auch die Differenzen müssen angesprochen werden. Der Koalitionsvertrag ist wichtig als Basis. Fast genauso entscheidend ist aber, dass es menschlich in einer Koalition stimmt. Das ist eindeutig der Fall. Das Vertrauen ist groß und es gibt eine gemeinsame Grundmelodie. Die Kabinettsklausur hat das noch einmal gezeigt.
Passauer Neue Presse: Eigentlich wollten Sie ja Gesundheitsministerin werden. Jetzt sind Sie Familienministerin geblieben. Wie groß ist die Enttäuschung?
Ursula von der Leyen: Keine Enttäuschung! Ich werde weiter mit voller Kraft Politik für Familien machen. Wir haben eine grundlegende Modernisierung der Familienpolitik eingeleitet. Und diesen Weg werde ich konsequent weitergehen zu einer besseren Vereinbarkeit von Kindererziehung, aber auch Pflege und Beruf. Ich will Kinderarmut auf allen Ebenen bekämpfen und ein neues Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen. Darin werden wir umsetzen, was in der vergangenen Wahlperiode mit der SPD nicht möglich war.
Passauer Neue Presse: Wie werden die Familien in Deutschland von der Politik der schwarz-gelben Bundesregierung profitieren?
Ursula von der Leyen: Wir entlasten diejenigen, die am meisten leisten und sich um andere kümmern. Wer Kinder erzieht, selbst sein Einkommen verdient und auch noch für die Zukunft vorsorgt, hat ab 1. Januar 2010 deutlich mehr Netto in der Tasche. Wir erhöhen die Kinderfreibeträge, damit Familien weniger vom selbstverdienten Einkommen durch Steuern weggenommen wird. Wir erhöhen das Kindergeld, weil das ein gerechter Ausgleich ist und Armut vermeidet. Hätten wir das Kindergeld nicht, wäre die Armutsquote von Kindern in Deutschland doppelt so hoch wie derzeit.
Passauer Neue Presse: Mit dem Kindergeld allein lässt sich gegen Kinderarmut nichts erreichen...
Ursula von der Leyen: Kinderarmut hat viele Ursachen, und deswegen brauchen wir mehrere gut aufeinander abgestimmte Hilfen. Hilfe zur Arbeit für die Eltern, Bildung für die Kinder und Gemeinschaftsangebote vom Sport bis zur Hausaufgabenhilfe. Die Kinder von Alleinerziehenden sind am stärksten von Armut gefährdet. Viele dieser Mütter wollen arbeiten und hätten mit ihrer Qualifikation, die nicht schlechter ist als die anderer Mütter, auch die Chance, aus eigener Kraft ihr Einkommen zu verdienen.
Ohne Kinderbetreuungsplatz sind sie aber gezwungen, in Hartz IV zu bleiben. Deshalb ist der Ausbau der Kinderbetreuung so wichtig. Die zweite Gruppe mit hohem Armutsrisiko sind Kinder mit Migrationshintergrund. Förderung und Bildung am Lebensanfang sind hier das Entscheidende.
Passauer Neue Presse: Hilft mehr Geld vom Staat gegen Kinderarmut?
Ursula von der Leyen: Zielgerichtet ja! Ein gutes Beispiel ist der Kinderzuschlag. Ihn erhalten Eltern, die es schaffen, ihr eigenes Einkommen zu erarbeiten, bei denen es aber für die Kinder nicht mehr reicht und die deswegen in Hartz IV sind. Diese Gruppe wollen wir stärken, denn sie sucht aktiv den Ausweg aus der Armut. Der verbesserte Kinderzuschlag erreicht bereits 300 000 Kinder. Die Experten sagen, dass jetzt der zweite Schritt kommen muss. Wir wollen den staatlichen Kinderzuschlag ausweiten, damit noch deutlich weniger Kinder auf Hartz IV angewiesen sind. Ich werde dazu den Gesetzentwurf auf den Weg bringen. Ich hoffe, dass er spätestens Anfang 2011 in Kraft treten kann.
Passauer Neue Presse: Konkret: Wie soll die Reform aussehen, und was wird sie kosten?
Ursula von der Leyen: Wir wollen die Abbruchkante an der oberen Einkommensgrenze beseitigen, damit nicht länger eine kleine Gehaltserhöhung um wenige Euro bewirkt, dass der Kinderzuschlag entfällt und am Ende die Familien mit weniger Einkommen dastehen. Dazu soll es ein Wahlrecht zwischen Kinderzuschlag und Hartz IV geben.
Wir werden damit mindestens 200 000, vielleicht sogar bis zu 350 000 Kinder mehr erreichen als heute. Die Ausweitung des Kinderzuschlages bedeutet für den Bund Entlastungen beim Arbeitslosengeld II, und für die Kommunen bei den Kosten der Unterkunft.
Passauer Neue Presse: Wäre nicht eine schnelle Erhöhung der Hartz-IV-Sätze für Kinder der nächste logische Schritt?
Ursula von der Leyen: Es ist richtig, die Regelsätze für Kinder grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Kinder haben einen eigenen Bedarf. Was sie benötigen, lässt sich nicht einfach zu bestimmten Prozentsätzen von dem ableiten, was Erwachsenen zusteht.
Passauer Neue Presse: Sie wollen gegen Kinderarmut kämpfen und die frühkindliche Bildung stärken. Widerspricht das geplante Betreuungsgeld für häusliche Erziehung nicht diesem Gedanken?
Ursula von der Leyen: Ich finde einerseits den Gedanken richtig, Erziehungsleistung aufzuwerten. Andererseits stört mich, dass das Betreuungsgeld nur dann gezahlt werden soll, wenn das eigene Kind nicht in die Kita geht oder bei einer Tagesmutter ist. Kinder aus sozial schwachen Familien gehen bereits heute seltener in die Kita als Kinder von gut ausgebildeten Eltern.
Hier müssten wir eigentlich mehr Überzeugungsarbeit leisten, dass auch Zweijährige vom Spiel mit Gleichaltrigen profitieren. Sprache, Neugierde, die Welt zu entdecken, Sozialverhalten lernen Kinder vor allem mit anderen Kindern. Deshalb sollten wir in den nächsten drei Jahren darüber diskutieren, wie wir die Leistung gestalten, damit kein Kind draußen bleiben muss. Ich halte die Idee eines Gutscheinsystems für nachdenkenswert.
Passauer Neue Presse: Die CSU will häusliche Erziehung mit dem Betreuungsgeld stärker anerkennen...
Ursula von der Leyen: Häusliche Erziehung ist und bleibt unverzichtbar und hoch anzuerkennen. Wir sollten aber keinen künstlichen Keil zwischen die Familien treiben, indem man behauptet, nur die erzögen ihre Kinder selbst, die keinen Kitaplatz oder eine Tagesmutter nutzen. Eine Krankenschwester, die für die Frühschicht eine Tagesmutter in Anspruch nimmt, erzieht ihr Kind selbstverständlich auch selbst.
Passauer Neue Presse: Vom Betreuungsgeld zum Zivildienst: Die schwarz-gelbe Koalition will die Wehrpflicht auf sechs Monate verkürzen. Wie sehr macht Ihnen Sorgen, dass große Wohlfahrtsverbände für diesen Fall bereits ihren Ausstieg aus dem Zivildienst ankündigen?
Ursula von der Leyen: Wir müssen hier schnell Lösungen finden. Die Verkürzung auf sechs Monate bedeutet, dass ab 2011 im Schnitt 30000 Zivildienstleistende weniger pro Jahr den Dienst antreten. Es geht um junge Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen, in Kitas und im Rettungsdienst unverzichtbar sind. Hier entsteht eine Lücke. Hereinwachsen in diese Lücke könnten die bestehenden und bereits heute stark nachgefragten Freiwilligendienste. Diese wollen und werden wir attraktiver machen. Außerdem werden wir die Möglichkeit prüfen, den Zivildienst freiwillig um einige Monate zu verlängern. Viele Zivildienstleistende wünschen sich genau das.
Passauer Neue Presse: Themenwechsel: Fassungslosigkeit nach dem Selbstmord von Nationaltorwart Robert Enke wie haben Sie die Trauer in den vergangenen Tagen erlebt?
Ursula von der Leyen: Mich hat beeindruckt, wie viel der Tod von Robert Enke und das Bekanntwerden seiner schweren Depression bei den Menschen ausgelöst hat.
Vielen wird klar: Schwäche, Versagensängste und Depression gehören zum Leben mit dazu. Niemand ist immer topfit. Dass wir das zulassen und darüber sprechen, wo Hilfe zu finden ist, scheint mir das Entscheidende zu sein. Darüber müssen wir uns in der Gesellschaft bewusst werden. So kann wieder Stärke entstehen.
Ich habe die Trauer als sehr berührend empfunden. Gemeinsame Orte und Rituale des Trauerns sind von großer Wichtigkeit. Was früher die Totenwache am Bett des Verstorbenen war, sind vielleicht heute die Kerzen, wie sie zu Hunderten für Robert Enke aufgestellt wurden.
Das Interview ist am 20. November 2009 in der Tageszeitung "Passauer Neue Presse" erschienen. Es wurde geführt von Rasmus Buchsteiner.