Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen und die Internetaktivistin Franziska Heine im Gespräch mit der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" über die Sperrung von Kinderpornografie-Seiten im Internet.
DIE ZEIT: Frau von der Leyen, Sie haben ein Gesetz zur Sperrung von Kinderpornografie im Internet durchgesetzt. Was soll das Gesetz bewirken?
Ursula von der Leyen: Das Gesetz macht deutlich: Kinderpornografie, also Bilder und Filme über Vergewaltigungen von Kindern und Säuglingen, wird grundsätzlich geächtet in unserem Land. Und wir setzen diese gesellschaftliche Ächtung auch durch, in der realen wie in der virtuellen Welt. Im Internet gelten keine anderen Freiheiten als anderswo. Denn wer kinderpornografische Bilder im Netz anklickt, der missbraucht die Kinder erneut und gibt einen Anreiz für die Produktion immer neuer Bilder.
Das heißt, wenn wir den Zugang zu solchen Bildern im Netz mit technischen Mitteln sperren, tragen wir auch zur Produktionsblockade bei. Eine ganze Reihe von Ländern tut das schon seit Jahren. Auch andere europäische Länder haben uns gefragt, warum dieses Instrument nicht auch in Deutschland genutzt wird. Jetzt haben wir ein Gesetz verabschiedet, das ziemlich gut ist, wie ich finde.
Franziska Heine: Ihr Gesetz ist nicht gut. Bevor der öffentliche Prozess in Gang kam, gab es lange eine Diskussion um die Frage, warum es in Deutschland keine Zugangssperren gibt. Die Antwort ist einfach: weil nach allen Erfahrungen in anderen Ländern Netzsperren ineffizient sind. Bei allen Sperrlisten, die untersucht und öffentlich gemacht werden konnten, hat sich herausgestellt, dass mindestens 70 Prozent der gesperrten Webseiten gar keine kinderpornografischen Inhalte vorhalten.
Ursula von der Leyen: Die genaue Recherche zeigt, dass diese Listen oft schon völlig überholt waren. Die Schweiz, England, die skandinavischen Länder, Kanada - alle Staaten, die bereits Zugangssperren haben, sagen, ja, das ist ein wichtiger Baustein, gerade bei der Prävention. Natürlich weiß ich, dass wir damit allein nicht die Wurzel des Übels bekämpfen können. Aber wir sagen ja auch nicht: Wir machen in den Schulen erst dann Drogenprävention, wenn es keine Mohnfelder in Afghanistan mehr gibt. Ganz wichtig ist mir, dass das Recht in der virtuellen Welt genauso selbstverständlich gilt wie in der realen Welt.
Franziska Heine: Das hat niemand bestritten.
Ursula von der Leyen: Aber es ist ein wichtiges Argument für die Frage, warum man die Seiten blockt! In einem Buchladen darf auch kein Bildband mit kinderpornografischem Material herumliegen. Das ist ganz selbstverständlich akzeptiert, niemand schreit "Zensur", wenn ein solcher Bildband nicht ausliegen darf. Das setzen wir jetzt auch im Netz durch.
Franziska Heine: Nein, Sie tun etwas anderes. Sie wollen, um bei Ihrem Bild zu bleiben, bloß ein weißes Blatt Papier über das Kinderporno-Buch legen, statt es aus dem Laden zu entfernen.
Ursula von der Leyen: Ein Blatt ist es nicht. Ein Blatt Papier kann jedes Kind hochheben, eine Sperre umgehen nicht. Wer die Stoppseite zu umgehen versucht, macht sich strafbar, weil er dann aktiv nach Kinderpornografie sucht. Und wir setzen auf Löschen vor Sperren. In Deutschland selbst können Internetseiten mit Kinderpornografie gelöscht werden, in Europa haben wir Richtlinien dafür. Aber gerade im nichteuropäischen Ausland gilt: Für Löschen gibt es keine rechtliche Möglichkeit, da ist Sperren das Mittel der Wahl, und dann gehen wir den Weg über Interpol und die Strafverfolgungsbehörden.
Franziska Heine: Ihr Gesetz lässt zu, dass jeder in den Laden gehen kann, das weiße Blatt zur Seite legt und sich dieses Buch ansieht. Dann kann er wieder aus dem Laden hinausgehen, und niemand wird ihn hinterher belangen. Das ist das Problem der Stoppseiten: Die Inhalte bleiben im Netz. Das ist mir einfach zu wenig.
DIE ZEIT: Der Hauptvorwurf gegen das Gesetz ist die Behauptung, hier werde Zensur betrieben. Was, Frau Heine, ist für Sie Zensur?
Franziska Heine: Ich verstehe unter Zensur ein solch intransparentes System, wie es gerade etabliert wird. Es wird mir unmöglich gemacht nachzuvollziehen, ob ich zu einem Thema tatsächlich umfassend Informationen im Netz finde. Das ist für mich Zensur.
DIE ZEIT: Frau von der Leyen, betreiben Sie Zensur?
Ursula von der Leyen: Der Kampf um Meinungsfreiheit war immer berechtigt. Aber diejenigen, die in den vergangenen Jahrhunderten um die Freiheit von Zensur gekämpft haben, taten das, weil sie anders als die Obrigkeit dachten oder ihre Religion ausüben wollten. Aber niemals, damit Bilder von Gewalt oder Kinderpornografie verbreitet werden können. Freiheit kann nie bedingungslos sein. Ihre Grenze ist da erreicht, wo sie die Freiheit oder die Würde des Mitmenschen infrage stellt. Zensur in Deutschland wäre, wenn zum Beispiel das Wort »Zensursula« verboten würde. Aber dass Bilder von vergewaltigten Kindern nicht frei zugänglich sind, das ist keine Zensur.
DIE ZEIT: Frau Heine, wir erleben gerade in Iran, wie ein Staat massiv ins Netz eingreift, um demokratischen Protest zu unterdrücken. Ist das tatsächlich dasselbe wie das Gesetz über Internetsperren gegen Kinderpornografie?
Franziska Heine: Die Chinesen, die selbst Zensur betreiben, sagen heute schon, sie würden nicht verstehen, wieso wir ihr System kritisieren, wenn doch bei uns das gleiche geplant sei. Wir liefern Regimes wie China oder Iran Argumente für deren massive Eingriffe in das Internet.
Ursula von der Leyen: Exakt die Gegenpositionen nehmen namhafte Rechtswissenschaftler ein, die sagen: Die verfassungsrechtlich geschützte Informationsfreiheit deckt nicht, dass strafrechtlich relevante Inhalte zur Verfügung gestellt werden. Wir leben in einem Rechtsstaat. Die Diskussion um die aktuelle Zugangserschwerung zeigt doch, wie aufmerksam dieser Staat damit umgeht.
DIE ZEIT: Frau Heine, was hat Sie dazu bewogen, Ihre Petition beim Bundestag zu starten?
Franziska Heine: Ich bezweifele die Realisierbarkeit einer wirksamen technischen Sperre. Außerdem schafft das Gesetz eine Struktur, die absolut intransparent ist: Erstens gibt es keine Möglichkeit nachzuvollziehen, welche Seiten auf die Sperrliste kommen, die vom Bundeskriminalamt erstellt werden soll. Zweitens gibt es keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren, dass man registriert wird, wenn man fälschlich auf einer Kinderpornoseite landet. Alle Internetnutzer, die auf eine Stoppschildseite gelangen, werden kriminalisiert, auch die, die dort nur zufällig landen.
Ursula von der Leyen: Es stimmt nicht, dass jeder kriminalisiert wird, der zufällig auf eine gesperrte Seite gerät. Viele Nutzer kommen ungewollt auf diese Seiten. Ich habe deshalb gegen die Vorstellung der SPD gefochten, dass automatisch die Daten aller Nutzer gespeichert werden. Diese Daten werden jetzt sofort gelöscht. So steht es im Gesetz. Es gibt keinen Generalverdacht. Außerdem haben wir zusätzliche Kontrollmechanismen eingebaut.
Franziska Heine: Das unabhängige Kontrollgremium, das jetzt in der Presse angepriesen wurde, wird nur alle drei Monate stichprobenartig untersuchen, ob die Sperrlisten des BKA korrekt sind – und das erst in zwei Jahren!
Ursula von der Leyen: Nicht erst in zwei Jahren, sondern mit Verabschiedung des Gesetzes. Das Gremium, das beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz und Informationssicherheit angesiedelt ist, kann jederzeit auf Basis von Stichproben beim BKA die Liste prüfen – mindestens einmal im Quartal.
DIE ZEIT: Frau Heine, Ihre Petition ist von 134.000 Menschen unterzeichnet worden. Waren Sie überrascht, dass es so viele sind?
Franziska Heine: Ja, von der Heftigkeit der Reaktion und der Masse der Unterstützer war ich schon überrascht. Für mich ist da etwas Wichtiges passiert: 134.000 Leute wurden politisiert. Sie haben sich mit einem Thema auseinandergesetzt - und gemerkt, dass die Politik ihre Argumente ignoriert.
DIE ZEIT: Haben Sie erwartet, dass 134.000 Unterschriften genügen, um ein Gesetz zu verändern?
Franziska Heine: Was ist denn passiert? Da wird ein Gesetz kurz vor Ende der Legislaturperiode durchgepeitscht, ohne dass man auf die Gegenargumente eingeht. 134.000 Menschen wird signalisiert: Es ist uns egal, was ihr denkt. Aber diese Menschen werden nicht aufhören. Das Netz ist unglaublich politisch. Die Unterzeichner der Petition haben gesehen, wie Entscheidungen in der Politik getroffen werden - und das wird sie nachhaltig prägen.
Ursula von der Leyen: Das ist lebendige Demokratie. Ich bin auch sicher, dass mehr als die 134.000 Zeichner sehr aktiv über die Fragen von Freiheit und ihren Grenzen diskutieren. Bei insgesamt 40 Millionen Internetnutzern in Deutschland gehen die Meinungen weit auseinander. Jetzt beginnt die Phase, in der man erkennen wird, ob Sie nachhaltig dranbleiben. Politik besteht aus Meinungsäußerung, aber danach muss man sich Mehrheiten suchen und auch Alternativlösungen anbieten. Das ist das Entscheidende.
DIE ZEIT: Frau von der Leyen, ignoriert die Politik die Argumente gegen die Netzsperren?
Ursula von der Leyen: Im Gegenteil. Der Prozess ist unverzichtbar. Zum ersten Mal wird sowohl im Netz als auch außerhalb breit diskutiert: Welche Regeln geben wir uns in der Frage von Freiheit und Verantwortung, von Würde und demokratischer Akzeptanz im Internet? Wie setzt man Informationsfreiheit und den Schutz von Kinderrechten durch? Das ist immer eine Abwägung. Und da hoffe ich sehr, dass Menschen wie Franziska Heine konkrete Vorschläge machen, wie sie ihre Kompetenz einbringen wollen, damit die Kinderpornografie im Internet bekämpft werden kann. Die Arbeit geht ja weiter.
DIE ZEIT: Frau von der Leyen, verstehen Sie die Enttäuschung, wenn Frau Heine sagt: Wir sind so viele, und niemand hört auf uns?
Ursula von der Leyen: Ich kann das Gefühl schon nachvollziehen, aber eine Onlinepetition ist mit einem Klick unterschrieben...
Franziska Heine: ...das stimmt nicht!
Ursula von der Leyen: Okay, vielleicht braucht es zwei, drei Minuten. Natürlich kann Frust entstehen, wenn man merkt, dass da auch andere demokratische Prozesse laufen, zum Beispiel Ausschussberatungen, in denen gewählte Vertreter Entscheidungen fällen, oder ein SPD-Parteitag, auf dem ein Beschluss anders fällt, als Sie sich das gewünscht hätten. Aber über diesen Punkt müssen Sie hinweg und sagen: Wir beteiligen uns weiter an den Diskussionen.
Franziska Heine: Für mich ist die Petition der Anfang einer völlig neuen Oppositionsform außerhalb der politischen Parteien. Ich denke, da wird in Zukunft eine Menge passieren. Wir werden auch weiter Gespräche führen. Ganz sicher werden wir aber auch die juristischen Wege beschreiten und Verfassungsklage einreichen.
Das Interview ist am 25. Juni 2009 in der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT" erschienen. Das Gespräch moderierten Kai Biermann und Heinrich Wefing.