Ursula von der Leyen im Stern-Interview

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen äußert sich im Stern-Interview zum Familienbild in der Gesellschaft.

Stern: Seit Tagen auf allen Kanälen, auf allen ersten Seiten: Ursula von der Leyen. Können Sie verstehen, dass es Leute gibt, die sagen: Die Frau geht uns langsam auf die Nerven?

Ursula von der Leyen: Ich gebe zu, dass Familienpolitik vulkanartig ins Zentrum der politischen Diskussion geraten ist. Ich finde das aber sehr gut. Das Leben mit Kindern war früher viel zu oft ein Thema für Sonntagsreden. Familienpolitik galt lange als "weiches Thema". Aber jetzt sehen wir, es ist das Thema, das darüber entscheidet, wie wir in Zukunft miteinander leben, es beeinflusst die Innovationskraft des Landes, die soziale Sicherung und den Arbeitsmarkt.

Stern: Sie überschütten die Republik geradezu mit Vorschlägen: Elterngeld, Steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten, Kindergarten-Plätze zum Nulltarif - Kinderlose könnten den Eindruck haben: ein schwerer Fall von Familienwahn.

Ursula von der Leyen: 30 Prozent der Paare in Deutschland haben keine Kinder mehr. Das ist weltweit der höchste Wert. In Frankreich sind es nur neun Prozent! Das treibt mich um! Das Konzept legt den Schwerpunkt auf die junge Familie. Am Anfang ist es am schwersten. Die Einkommen sind klein, der berufliche Weg nicht gefestigt, zeitgleich muss die Entscheidung für Kinder fallen. Hier will ich unterstützen, damit junge Eltern Kraft für Kinder haben und Anerkennung finden.

Stern: Sie strahlen einen beängstigenden Perfektionismus aus: Sieben Kinder, Karriere als Ärztin, dann als Politikerin - ihre Botschaft ist: Schau mal, es geht doch, es liegt nur an Dir! 

Ursula von der Leyen: Es ist absurd, dass wir in Deutschland der Mutter, die mit dem Kind zu Hause bleibt, ein schlechtes Gewissen einreden, aber der Mutter, die arbeiten geht, auch ein schlechtes Gewissen machen. Wir setzen sie ständig zueinander in Konkurrenz. Ich bin als Familienministerin für beide da, denn beide haben Kinder. Reden wir eigentlich auch mal über die Frage, warum inzwischen mehr Männer als Frauen Kinder grundsätzlich in ihrem Leben ausschließen?

Stern: Gerne. Was wollen Sie denen mit auf den Weg geben?

Ursula von der Leyen: Erinnern Sie sich an die Diskussion um die Vätermonate beim Elterngeld? Da gab es Schlagzeilen wie "Pflicht zum Wickeln, Zwang zur Wiege". Ich wurde im "heute journal" gefragt, ob ich die Männer mit der Peitsche nach Hause treiben will. Darin äußert sich eine tiefe Verachtung all dem gegenüber, was Erziehung ist.

Stern: Zwei Monate Wickeltisch und Waschküche - das hält doch beinahe jeder Vater aus. Aber glauben Sie wirklich, dass viele Männer dadurch umdenken und sich anschließend 20 Jahre lang intensiv einbringen in die Familienarbeit?

Ursula von der Leyen: Die Vätermonate ein wichtiger, erster Schritt. Wir wissen zweierlei aus Untersuchungen. Erstens: Mehr als die Hälfte aller Männer unter 44 Jahren sagen, sie würden gerne Elternzeit nehmen; sie können es nur nicht, weil sie kein ausreichendes Einkommen haben in dieser Zeit. Mit dem Elterngeld bekommen sie die Chance. Zweitens: Das Verhalten des Vaters um die Geburt des ersten Kindes ist entscheidend, ob später mehr Kinder geboren werden. Beteiligt er sich in den ersten Monaten stark, wenn Tag und Nacht das Kleine Zuwendung braucht, dann fällt die Entscheidung zum zweiten Kind leichter. Macht er sich bei der alltäglichen Arbeit aus dem Staub, ist die Mutter skeptisch beim Gedanken an ein zweites Kind. Denn sie weiß: Es liegt alles allein auf ihren Schultern.

Stern: Hat Sie die Wucht der Debatte um die Vätermonate überrascht?

Ursula von der Leyen: Im ersten Augenblick ja, weil ich wahrscheinlich zu viel von meiner Auslandserfahrung übertragen habe. Im Ausland habe ich gesehen, wie selbstverständlich die Vaterrolle gerade in erfolgreichen Berufsbiographien akzeptiert wird.

Stern: Ist Deutschland rückständig?

Ursula von der Leyen: Ja. Wenn Sie mit internationalen Firmen oder internationalen Wissenschaftlern über dieses Thema reden, betrachten die meisten von ihnen Deutschland sogar als ausgesprochen rückständig -  und das auch noch mit einem gewissen Mitleid. Die sagen: Ihr wisst ja gar nicht, was ihr alles verpasst mit eurer starren Vorstellung. Ein berufstätiger, erfolgreicher Mann kann auch mit Leidenschaft Vater sein - und mehrdimensional denken. Das macht kreativ!

Stern: Mit Ihrem Programm wollen Sie vor allem gebärunlustige Akademikerinnen an den Kinderwagen bringen?

Ursula von der Leyen: Ich möchte, dass junge Leute mit einer Ausbildung wieder den Mut haben, sich auf das Wagnis Kind einzulassen. Fakt ist doch, dass Menschen, die Kinder bekommen in unserem Land heute drastisch schlechter dastehen als Menschen mit der gleichen Ausbildung, die sagen: Wir bekommen keine Kinder. Das ist es, was ungerecht ist. Schließlich profitieren alle von diesen Kindern.

Stern: Haben alle Parteien, einschließlich  der CDU, den demographischen Wandel verschlafen?

Ursula von der Leyen: Ja. Wir haben ihn lange ignoriert, nach dem Motto: Wenn möglichst alles unverändert bleibt, dann bleibt auch Familie erhalten. Falsch. Stillstand ist Rückschritt, das gilt in der Wissenschaft, in Betrieben und in Familien. Wenn wir Familie erhalten wollen, müssen wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sie in einer modernen Welt gelebt werden kann. Wenn Männer und Frauen eine lange Ausbildung hinter sich haben, dann wollen beide ihre Fähigkeiten auch im Beruf entfalten können.

Stern: Seien Sie doch mal ehrlich! Sie haben ein Leitbild im Kopf: Mutter und Vater sollen arbeiten. Sie finden es eigentlich blöd, wenn ein Elternteil zu Hause bleibt.

Ursula von der Leyen: Ich habe zusammen gerechnet sieben Jahre mit meinen Kindern zuhause verbracht. Sie sehen schon daran: Mein Respekt gilt dem einen wie dem anderen Lebensmodell. Ich staune aber, dass Mütter sich immer noch rechtfertigen müssen, wenn sie arbeiten wollen. Kein Vater muss das.

Stern: Das ist nicht gerade das traditionelle Familienbild der CDU/CSU, das Sie da hoch halten. Einigen in ihrer Partei geht der Paradigmenwechsel offenbar zu schnell oder sie wollen ihn überhaupt nicht. Deshalb wird genörgelt.

Ursula von der Leyen: Die Generation meiner Eltern war glücklich zu ihrer Zeit, das stelle ich nicht in Frage. Heute müssen wir aber doch alles tun, dass unsere Töchter und Söhne in einer hochkomplexen, globalisierten Arbeitswelt Raum und Zeit für Kinder finden. Sonst verzichten immer junge Menschen auf Kinder. Ohne Kinder können wir in Deutschland das Licht löschen.

Stern: Wo war eigentlich der Aufschrei der Familienministerin, als Pendlerpauschale gekürzt, Eigenheimzulage und Kindergeld ab dem 25. Lebensjahr gestrichen und die Mehrwertsteuererhöhung beschlossen wurde? Das alles belastet vor allem Familien.

Ursula von der Leyen: Eine Frage nachhaltiger Familienpolitik ist es auch, den Haushalt zu konsolidieren. Denn unsere Schulden werden eines Tages die Kinder zahlen müssen. Deshalb trage ich diese Maßnahmen mit voller Überzeugung mit.

Stern: Die Alleinerziehenden sind wütend auf Sie. Sie werden durch die Neuregelung bei den Betreuungskosten benachteiligt. Haben Sie diese Gruppe vergessen?

Ursula von der Leyen: Nein. Alleinerziehende mussten bisher bis 750 Euro selbst bezahlen und konnten weiter 750 Euro absetzten. In Zukunft müssen sie 1000 Euro selbst bezahlen, können dafür aber weitere 4000 Euro geltend machen. Das hilft ihnen sehr. Denn gerade Alleinerziehende haben hohe Betreuungskosten. Mich ärgert es zwar maßlos, dass der Eigenanteil für Alleinerziehende u, 250 Euro angestiegen ist. Aber das Steuerrecht lässt nichts anderes zu.

Stern: Was halten sie vom  kürzlich gemachten Vorschlag der Expertenkommission "Familie und demographischer Wandel", das Ehegattensplitting durch ein Familiensplitting zu ersetzen ? 

Ursula von der Leyen: Da ist die Haltung der Union ganz eindeutig: Das Ehegattensplitting wird nicht angerührt. Und ein Familiensplitting, wie es Frankreich hat, ist bei unserer Haushaltslage nicht finanzierbar.

Stern: Wird es die noch von Ihrer Vorgängerin Renate Schmidt versprochenen 230.000 Plätze für die unter Dreijährigen bis 2010 tatsächlich geben?

Ursula von der Leyen: Es gibt einen gesetzlich festgelegten Zeitplan für den Ausbau der Kinderbetreuung. Wird er nicht eingehalten, wollen wir, darauf haben wir unsim Koalitionsvertrag verständigt, ab 2010 einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder schon ab dem ersten Geburtstag festzuschreiben.

Stern: Ihr Vorschlag, Kindergartenplätze zum Nulltarif bereitzustellen ist erstaunlich. Wieso soll das Töchterchen des Millionärspaares auf Kosten der Allgemeinheit großgezogen werden?

Ursula von der Leyen: Wir sehen den Kindergarten inzwischen zu Recht als ersten Teil der Bildungskette. Wir haben aus gutem Grund ja auch das Schulgeld eines Tages abgeschafft. Für die Kindergärten wird nicht von heute auf morgen flächendeckend in Deutschland gehen. Aber das Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Seitdem im Saarland Kindergärten im letzten Jahr vor der Grundschule kostenfrei sind, kommen 100 Prozent der Kinder dort hin - gerade aus sozial schwachen und Migrantenfamilien.

Stern: Den Besserverdienenden fehlt doch gerade nicht das Geld, sondern die Zeit für Kinder!

Ursula von der Leyen: Am Anfang eines Berufslebens ist das Einkommen klein - man steigt ja nicht mit dem Abteilungsleitergehalt ein. Und wenn man jung ist, werden die Kinder geboren oder nicht. Aber natürlich ist Zeit die Schlüsselfrage. Ich werde das in den nächsten Wochen mit der Wirtschaft intensiv diskutieren, denn ein kluges Zeitmanagement ist Voraussetzung  für ein Leben mit Kindern. Da sind auch die Arbeitgeber gefragt - im ureigensten Interesse. Eine Studie von "Prognos" zeigt, dass die durchschnittliche Rendite familienfreundlicher Maßnahmen in einem Unternehmen bei 25 Prozent liegt.

Stern: Es ist Ihre Partei, die seit Jahren den Kündigungsschutz knacken will. Sie nehmen den Menschen Sicherheit und Perspektive - und wundern sich, dass sie keine Kinder mehr bekommen.

Ursula von der Leyen: Dänemark oder die Schweiz kennen kaum Kündigungsschutz. Dort geht aber die Vermittlung in neue Arbeit viel schneller. Das gibt auch Sicherheit. Oder nehmen Sie die USA, wo ich lange gelebt habe. Dort bedeutet es für die Väter eine hohe Sicherheit, wenn sie wissen: Auch wenn ich mal für zwei oder drei Monate arbeitslos bin, beim Wechsel von einem Job in den nächsten kann meine Frau in der Zwischenzeit ihren Teil für den Lebensunterhalt beitragen, weil eben auch die Mütter den Zugang zum Arbeitsmarkt behalten. In all diesen Ländern werden mehr Kinder geboren als bei uns.

Stern: Woher sollen in Deutschland diese Millionen von Arbeitsplätzen für Mütter kommen?

Ursula von der Leyen: Frauen werden arbeiten, weil alle Arbeitsmarktprognosen uns sagen, dass wir auf einen dramatischen Fachkräftemangel zugehen. Es wird dann nur noch um die Frage gehen, ob Frauen und Männer arbeiten und Kinder bekommen, oder ob sie arbeiten und keine Kinder haben.

Stern: In Umfragen nennen Frauen um die 30, die noch keine Kinder haben, nicht fehlende Kita-Plätze oder mangelnde finanzielle Unterstützung als wichtigsten Grund - sondern: Mir fehlt der richtige Partner.

Ursula von der Leyen: Ich verstehe das. Frauen wollen einen Mann, mit dem sie Kinder haben und sich gemeinsam   um Lebensunterhalt und Erziehung kümmern können. Was ich auch erlebe, ist eine tiefe Verunsicherung über die Rolle der Väter. Die Rolle des Alleinernährers scheint es nicht mehr zu sein, die bricht zunehmend weg. Wir erleben überall verunsicherte Männer...

Stern: Man könnte auch die Frage stellen: Was ist eigentlich mit den deutschen Frauen los, dass sie keine zeugungswilligen Männer mehr für sich gewinnen können?

Ursula von der Leyen: Wenn das klassische männliche und das klassische weibliche Rollenbild nicht mehr klar definiert sind, haben beide Seiten Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Wenn ich daran denke, mit wie viel Verächtlichkeit meinem Mann in dem Moment begnete, in dem ich Ministerin wurde - nach dem Motto: Aha, jetzt müssen Sie sich also um die Kinder kümmern -, spricht das dafür, dass es in der Tat schwierig ist, eine solche männliche Rolle in unserem Land zu akzeptieren.

Stern: Scheidungs- und Unterhaltsrecht werden von vielen Männern als Instrumente zur finanziellen Ausplünderung empfunden, das Sorgerecht als Hebel zu emotionaler Erpressung. Das alles macht das Projekt Familiengründung für Männer nicht verlockend - ein reiches Betätigungsfeld für eine Familienministerin.

Ursula von der Leyen: Jede Ministerin und jeder Minister muss Schwerpunkte setzen. Den Vätern, die sich engagieren wollen, wollen wir bessere Möglichkeiten geben, ihre Väterrolle auszuüben- davon gibt es immer mehr. Den Vätern, die ihrer Pflicht der Unterhaltszahlung nicht nachkommen, werden wir weiter auf die Finger gucken.

Stern: Haben Sie eigentlich als Mutter auch manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn Sie in Berlin sind und die Familie in Hannover ist?

Ursula von der Leyen: Natürlich gibt es solche Momente. Das ist etwas, was mich mein Leben lang begleitet, auch schon als junge Ärztin. Neulich gab es so eine Situation, die typisch ist: Zwanzig Minuten vor Beginn der Kabinettssitzung klingelte mein Familienhandy. Es war eine Tochter dran, die sich in Hannover mit der U-Bahn verfahren hatte und nicht mehr wusste, wo sie war. Sie weinte. Das sind die Momente, in denen ich denke: Oh, ich müsste jetzt da sein. Das ist völlig irrational, denn auch wenn ich in Hannover gesessen hätte, könnte ich ihr im U-Bahn-System nicht helfen. Ich habe sie dann am Handy gelotst, bis sie zu einem Ort zurückgefahren war, wo sie sich auskannte - und ich habe immer gebetet, dass ihr Akku hält.

Stern: Kamen Sie zu spät ins Kabinett?

Ursula von der Leyen: Nein, aber mit rasendem Puls. Es gibt aber auch andere Tage. Wenn ich noch nach Hannover zurückfahre und morgens dann meine Kleinste zu mir ins Bett gekrochen kommt. Und wir dann kuscheln und "Pippi Langstrumpf" lesen.

Das Interview ist am 25. Januar im Stern erschienen. Interview: Anette Lache/ Tilman Gerwien