Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Frau Rösgen,
sehr geehrte Damen und Herren,
wer Deutschland ist und wer zu Deutschland gehört, wird immer wieder heiß diskutiert. Für mich ist Deutschland die 76jährige Rentnerin Ursula Hill, die ehrenamtlich und aufopferungsvoll Asylbewerbern in Schwetzingen hilft. Der Kleinkunst-König Till Hoffmann, der die Anti-Pegida-Demonstrationen in München mitorganisiert hat. Die Journalistin Andrea Röpke mit ihren unermüdlichen Recherchen zur rechtsextremen Szene, unter anderem in Mecklenburg-Vorpommern. Der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der NSU-Opfer vertritt und leidenschaftlich für Integration wirbt.
Ich könnte Ihnen noch viele Menschen vorstellen, die sich in beeindruckender Art und Weise für unsere Gesellschaft engagieren. Der Titel des neuen Bundesprogrammes "Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit" ist ein Appell. Wir verbinden diesen Appell heute mit einer Botschaft für unser Land: Wer Demokratie lebt, wer aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit eintritt, ist Deutschland.
Wir alle sind Deutschland. Denn Demokratie leben, das tun Sie alle.
Herzlich willkommen an die Aktiven aus derzeit über 170 Kommunen und Landkreisen mit ihren Partnerschaften für Demokratie, aus den "Demokratiezentren" in allen 16 Bundesländern, von 27 bundeszentralen Trägern und 90 Modellprojekten!
Ich bin als Ministerin dafür angetreten, das Misstrauen gegen diejenigen zu stoppen, die sich für Demokratie und Vielfalt einsetzen. Die Extremismusklausel wurde gestrichen. Ich wollte eine dauerhaftere Förderung. Das ist gelungen.
Außerdem habe ich mich dafür eingesetzt, die Mittel deutlich aufzustocken. Insgesamt stehen in diesem Jahr 40,5 Millionen Euro zur Verfügung. Wir haben ein neues Programm angekündigt, wir haben es zügig umgesetzt, und wir haben es im Dialog umgesetzt. Es ist gut, dass Bund, Länder, Kommunen und die Zivilgesellschaft eng zusammen arbeiten. Herzlich willkommen zur Auftaktkonferenz des Bundesprogramms "Demokratie leben!"
Wir leben in einer schwierigen Zeit und in einer Welt mit vielen Konflikten, Gewalt und Krieg. Syrien, Irak, der gesamte Nahe Osten oder die Ukraine beherrschen die Schlagzeilen. Wir merken die Auswirkungen aber auch hier. Immer mehr Flüchtlinge suchen Zuflucht in unserem Land. Sie suchen Schutz vor Verfolgung, sind oft traumatisiert und haben Tod, Gewalt und bittere Not erlebt.
Haben nicht gerade wir Deutschen genügend Gründe, Flüchtlingen zu helfen? Wir sollten sie nicht bloß dulden, als seien sie uns lästig. Wir müssen sie willkommen heißen und uns um sie kümmern, so gut uns das möglich ist. Gleichzeitig stehen wir vor Herausforderungen, die die Stabilität, die Sicherheit, die Demokratie und die Vielfalt in unserer Gesellschaft direkt bedrohen.
Das gilt für den radikalen, gewaltorientierten Islamismus, den Antisemitismus und den Rechtsextremismus. Auch Islam- beziehungsweise Muslimfeindlichkeit, Antiziganismus, Ultranationalismus, Homophobie oder linke Militanz bedrohen die Demokratie, und die Liste ist damit sicherlich noch nicht vollständig.
Klar ist: Gewaltbereite Gruppen sind ein Fall für die Sicherheitsbehörden und die Justiz. Aber neben den sicherheitspolitischen Antworten brauchen wir vor allem gesellschaftspolitische Antworten. Sicherheit gibt es nicht allein durch schärfere Gesetze. Sicherheit gibt es nur mit Prävention. Ich bin froh, dass viele europäische Regierungschefs sich hierzu am vergangenen Wochenende eindeutig positioniert haben. Denn andere europäische Länder stehen vor den gleichen Herausforderungen wie wir.
In die Nachrichten schaffen es die Gefahren für unsere freie Gesellschaft meist erst dann, wenn es zu offener Gewalt kommt. Es beginnt aber viel früher. Es beginnt in den Köpfen zumeist junger Menschen, die zum Teil jahrelange Radikalisierungsprozesse durchlaufen.
Die Menschen um sie herum bemerken das erst spät, oder sie wissen nicht, was sie tun sollen. Viele fragen sich: Was macht gewaltorientierte, islamistische Strömungen so attraktiv? Aber man muss auch andersherum fragen: Was hat unsere Demokratie dem entgegenzusetzen? Was hätte den Berliner Jungen "Deso Dogg" davon abhalten können, IS-Kämpfer zu werden? Was würden Sie einem jungen Menschen erwidern, der Ihnen sagt, die Scharia sei die einzige Medizin gegen die Krankheit Demokratie und Integration?
Die erste Reaktion von jemand, der seit Jahren Rechtsextremismusberatung macht, war ehrlich und spontan: "Um Himmels willen, was machen wir jetzt damit?" Wir suchen noch nach Wegen. Deshalb ist es wichtig, dass sich viele neue Modellprojekte im neuen Bundesprogramm mit der Prävention vor gewaltbereiten Islamismus beschäftigen.
Wir müssen die Forschung verstärken. Wir müssen auch im Netz gegen Radikalisierung vorgehen und besser verstehen, welchen Beitrag das Internet und die sozialen Netzwerke bei der Radikalisierung leisten. Wir werden zusätzlich eine Million Euro für lokale Projekte in den Partnerschaften für Demokratie mit diesem Schwerpunkt zur Verfügung stellen.
Gleichzeitig müssen wir die Gefahren des Antisemitismus im Blick behalten. Antisemitismus tritt wieder offener auf. Angriffe und Anschläge auf jüdische Einrichtungen nehmen zu. In den Schulen und in der Gesellschaft breiten sich antisemitische Einstellungen wieder stärker aus. Der immer wieder aufflammende Konflikt zwischen Israel und Palästina liefert dem Antisemitismus Nahrung. Es ist beschämend, dass sich Menschen jüdischen Glaubens fragen, ob sie in Deutschland und in Europa überhaupt noch sicher leben können.
Ich finde es höchst problematisch, wenn Teile der Gesellschaft die Geschichte der Schoah am liebsten vergessen wollen. Wir stehen hier in einer besonderen Verantwortung. Nicht nur, dass wir antisemitischen Einstellungen klar und deutlich entgegentreten müssen. Wir müssen auch Antworten auf aktuelle Entwicklungen und Formen des Antisemitismus finden - eine Aufgabe des Bundesprogramms "Demokratie leben!", die mir sehr wichtig ist.
Aktuelle Entwicklungen heißt: Nicht alles, was antisemitisch ist, ist auch rechtsextrem. Aber nach wie vor sind Rechtsextremismus und Antisemitismus ganz eng verbunden. Für mich hat der Kampf gegen den Rechtsextremismus weiter höchste Priorität.
In meiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern habe ich erlebt, was es bedeutet, wenn Rechtsextreme ganze Dörfer tyrannisieren und im Landtag gegen Flüchtlinge hetzen. Die Morde des NSU und unzählige andere, größere und kleinere Gewalttaten zeigen, wozu Rechtsextreme fähig und bereit sind. Wer sich jahrelang gegen Nazis engagiert, weiß, dass der Einsatz gegen Rechts mit Bedrohungen für Leib und Leben bezahlt wird. Wer unsere Demokratie gegen Rechtsextreme verteidigt, hat meinen Respekt, mein Vertrauen und meine Unterstützung.
Sehr geehrte Damen und Herren, die radikalen Ideologien, die ich beschrieben habe, haben alle etwas gemeinsam: die Vorstellung der Ungleichwertigkeit von Menschen. Die Vorstellung, bestimmte Menschen seien weniger wert als andere, rechtfertigt Benachteiligung und Ausgrenzung. Die Vorstellung, man selbst sei mehr wert als andere, gibt radikalen Gruppen ein trügerisches Gefühl der Stärke. Über Ausgrenzung entsteht Gemeinschaft, und Ausgrenzung ist auch die Basis für Gewalt.
Geschlossene Ideologien sind aber nur eine Seite des Problems. Die andere Seite sind alltägliche Vorurteile, vor denen niemand gefeit ist, und der alltägliche Rassismus. So etwas wie: "Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber die Roma gehören nicht hierher." oder: "Schwulsein an sich ist schon okay. Aber wenn sich zwei Männer in der Öffentlichkeit küssen, stört mich das." Auch mit solchen Schubladen im Kopf müssen wir uns auseinandersetzen; denn hier fangen Ausgrenzung und Benachteiligung an.
Und machen wir uns nichts vor: Die Bindungswirkung von Demokratie nimmt ab, und zwar durchaus auch in der Mitte der Gesellschaft. Einer aktuellen Studie des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap zufolge denken mehr als 60 Prozent der Bürger, dass in Deutschland keine echte Demokratie herrscht. In Wirklichkeit habe die Wirtschaft das Sagen.
In einer anderen Studie meinte eine Mehrheit der Befragten, die Parteien würden alles zerreden und die Probleme nicht lösen. Das ist ein deutlicher Warnschuss für die Politik. Politik muss zeigen, dass das gewählte Parlament entscheidet. Gute Politik muss um Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern werben, sich immer wieder erklären und für einen gesellschaftlichen Interessenausgleich sorgen.
Aber Politik agiert nicht im luftleeren Raum. Ich habe kürzlich mit einem jungen Syrer in Dresden gesprochen, der vor Krieg und Gewalt nach Deutschland geflüchtet ist. Er ist dankbar, in Sicherheit zu sein, und will in unserem Land neu anfangen. Er will hier arbeiten und leben. Und dann wird er auf dem Weg zu seinem Deutschkurs zusammengeschlagen und angefeindet. In der Stadt, in der jede Woche Menschen mit großen Worten von Patriotismus und Abendland auf die Straße gehen und ihrem Unmut über die Politik Luft machen. Auch andere berichten, dass sich das Klima in Dresden durch Pegida vergiftet hat. Weit über die Demonstrationen hinaus.
Demokratie bewährt sich darin, wie Menschen im Alltag auf Augenhöhe miteinander umgehen. Nicht zuletzt im Umgang mit Minderheiten. Aber worüber wird berichtet? Über die Pegida-Demonstrationen und die Menschen, die daran teilnehmen. Über ihre Politikverdrossenheit, ob man mit ihnen reden soll, und wenn ja, wer und worüber.
Viel weniger hört man über die Menschen, die gegen Pegida auf die Straße gehen. Das sind viele, viele Tausend Menschen in ganz Deutschland, viel mehr als bei den Pegida-Demonstrationen. Diese Menschen müssen wir wertschätzen und stärken. Weil sie etwas für die Demokratie tun - ganz egal, wo sie herkommen, wo sie aufwachsen, was sie glauben oder welche Hautfarbe sie haben. Diese Menschen unterstützen wir gemeinsam mit dem Programm "Demokratie leben!".
Die Antwort auf Bedrohungen unserer Demokratie muss heißen: Mehr alltäglich gelebte Demokratie. Die Antwort auf Drohungen gegen Minderheiten muss heißen: Mehr Wertschätzung für Vielfalt. Die Antwort auf Ausgrenzung muss heißen: Wir alle sind Deutschland.
Oft fängt das Nachdenken über Demokratie klein an: Da merkt jemand im Sportverein: In meiner Mannschaft nehmen die unbedachten Äußerungen zu. Es wird rumgepöbelt, vielleicht gegen Minderheiten, vielleicht auch irgendwann gegen Mannschaftskameraden.
Oder jemand lernt den neuen Nachbarn kennen und stellt fest: Es ist ein stadtbekannter Neonazi. Seitdem trampeln Springerstiefel durchs Haus, und die Musik ist zu laut, um wegzuhören. Die erste Reaktion ist: "Das geht doch nicht!", "Ich will das nicht!", "Ich will etwas tun!". Die zweite Reaktion ist oft: Ratlosigkeit. "Was mache ich denn jetzt?" Und Angst. Denn allein ist man verloren.
Wenn jemand hier abbricht, ist das verständlich. Aber die Demokratie ist dann ein Stück schwächer geworden. Wenn jemand hier Rat findet und Unterstützung und weitermacht und nachdenkt und sich wehrt, vielleicht gemeinsam mit anderen, ist die Demokratie ein Stück stärker geworden.
Wir wollen mit unseren Projekten dazu beitragen, dass es mehr Rat und Unterstützung und weniger Angst gibt. Weniger Angst wäre ein großer Erfolg. Wir fördern deshalb Projekte in den Ländern und Kommunen, in urbanen und ländlichen Räumen, wo die Demokratie in Gefahr ist.
Mehr Rat und Unterstützung gibt den Mut, sich mit Problemen auseinanderzusetzen: Den Schankraum zu verweigern, wenn Nazis reinkommen. Weiterzuwissen, wenn Eltern ihre Kinder mit Hakenkreuz-T-Shirts in die Schule schicken. Wissen, was bei Gewalt in der U-Bahn zu tun ist.
Demokratie ist anstrengend. Sie muss geschützt und immer wieder neu erstritten werden. Aber die Anstrengung lohnt sich. Denn es ist besser, Konflikte zu akzeptieren und zu lösen. Es ist besser, auf Gewalt zu verzichten.
Es ist besser, Respekt voreinander zu haben und Respekt vor Unterschieden zu haben. Ich möchte alle zur Demokratie ermutigen: in der Familie, in Kitas, Schulen, Jugendzentren, Sportvereinen, und und und.
Und ich möchte mit dem Programm "Demokratie leben!" dazu beitragen, dass Menschen, die Demokratie leben, nicht allein sind. Gerade dann nicht, wenn es anstrengend wird und wenn sie - oft aus guten Gründen - Angst haben.
Deshalb fördern wir Taten - und wir fördern Strukturen. Mit den Partnerschaften für Demokratie, mit den Landesdemokratiezentren, mit den vielen engagierten Trägern und den Modellprojekten, mit der Bundeszentrale für politische Bildung wollen wir ein lebendiges und dichtes Netzwerk schaffen, das zur Prävention vor Radikalisierung beiträgt.
Wir arbeiten auch mit anderen Bundesministerien noch enger zusammen. Ich bin sehr froh, dass es gerade mit dem Bundesministerium des Innern eine gute Partnerschaft gibt. Wir haben im Programm eine Struktur geschaffen, die das gegenseitige Lernen einfacher machen soll. Auch das ist wichtig, gerade bei neuen Entwicklungen: Lassen Sie uns gemeinsam lernen!
Die fünfjährige Laufzeit des Programms soll vor allem dazu beitragen, in den Regelstrukturen anzukommen. Alle, die sich für Demokratie und Vielfalt einsetzen, gerade diejenigen, die in der Beratung arbeiten, wissen: Man braucht Zeit, Kontinuität, Vertrauen. Deshalb die dauerhaftere Förderung. Der Auftakt von "Demokratie leben!" ist ein Start vieler kleiner Schritte. Aber die Ziele sind groß.
- Prävention gegen Radikalisierung und Gewalt - eine sichere Gesellschaft.
- Achtung der Menschenwürde und Vielfalt, die von allen akzeptiert wird - eine offene Gesellschaft.
- Mut, Zivilcourage und Konfliktfähigkeit - eine gelebte Demokratie.
Ich freue mich sehr, dass so viele von Ihnen bereit sind, sich in die Arbeit zu stürzen. Mit heißem Herzen und auch mit einem kühlen Kopf. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammen für unsere gemeinsamen Werte, für unsere Freiheit und Vielfalt zu arbeiten und - Demokratie zu leben!