Interview Die Gesellschaft hat eine besondere Verantwortung

Denkmal Sinti und Roma in Berlin
In Berlin erinnert ein Denkmal an die ermordeten Sinti und Roma während der NS-Zeit © Stiftung Denkmal/Marko Priske

taz: Herr Daimagüler, Sie sind der erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus. Es gibt schon eine Antirassismusbeauftragte, sie wurde nur kurz vor Ihnen berufen. Warum braucht es Sie?

Mehmet Daimagüler: Die Minderheit der Sinti und Roma lebt seit Jahrhunderten in Deutschland. Es gibt keinen Lebensbereich, in dem diese Menschen keine Spuren hinterlassen haben, egal ob Kunst, Kultur, Wirtschaft oder Gesellschaft. Zugleich sind sie bis heute mit einem tief sitzenden Antiziganismus konfrontiert. Es ist gut, das Engagement auf verschiedene Bundesressorts zu verteilen: im Kanzleramt die Antirassismusbeauftragte, im Bundesinnenministerium der Antisemitismusbeauftragte und ich im Bundesfamilienministerium. Ich fände es schwierig, all die Phänomene, die natürlich Parallelen, aber eben auch Unterschiede haben, einfach unter einem Dach zusammenzufassen. Am Ende des Tages ist es auch eine Ressourcenfrage: Man kann sich nicht zerreißen. Und letztlich beraten wir alle die Bundesregierung und werden dabei zusammenarbeiten.

taz: Was sind die Besonderheiten des Antiziganismus?

Mehmet Daimagüler: Die Hetze und Ächtung, die Sinti und Roma erfahren, beschränkt sich lange nicht auf Rechte und Nazis, sondern ist gesellschaftlich akzeptiert, das zeigen Bevölkerungsumfragen seit Jahren sehr eindrücklich. Es gibt eine große Selbstverständlichkeit, mit der die übelsten Verhaltensweisen gerechtfertigt werden. Menschen dieser Minderheit werden ständig pauschal mit Verwahrlosung und Kriminalität in Verbindung gebracht und so unter polizeilichen Generalverdacht gestellt. Die heutigen Diskussionen um Sippen- und Clankriminalität erinnern sehr unheilvoll an frühere Zeiten, in denen dieses Konstrukt der kriminellen Minderheit geprägt wurde. Aus der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten ergibt sich zudem eine besondere Verantwortung gegenüber Sinti und Roma und der Bekämpfung des Antiziganismus.

taz: Während des NS-Völkermords an den Sinti und Roma wurden zwischen 220.000 und 500.000 Menschen ermordet. Welche Bedeutung hat das für die Lebensrealität der Menschen heute?

Mehmet Daimagüler: Wie sind wir mit dem Völkermord an diesen Menschen umgegangen? Die Wahrheit ist: gar nicht. Das Gerede von einer Stunde null ist ja in vieler Hinsicht falsch, aber gerade mit Blick auf Sinti und Roma ist es in geradezu grotesker Weise falsch. In Brandenburg an der Havel findet derzeit ein Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen statt. Ich vertrete eine Nebenklägerin. Sie ist Sintezza, ihr Vater wurde dort ermordet. Ihre Berichte von der damaligen Verfolgung sind schlimm. Was mich aber noch mehr erschüttert hat, ist, wie es nach dem Krieg weiterging.

taz: Und zwar?

Mehmet Daimagüler: Ausgerechnet Polizeibeamte, die an der Verfolgung von Sinti und Roma mitgewirkt haben, wurden später von Gerichten bei Opferentschädigungsverfahren als Zeugen gehört. Und natürlich beteuerten sie, die Menschen seien nicht aus rassistischen Gründen, sondern zur Kriminalitätsbekämpfung ins Lager gekommen - mit der Folge, dass die Entschädigungsanträge von Betroffenen abgelehnt wurden. Polizeibehörden haben die Repressionen und Sondererfassung gegen die Minderheit nach 1945 fortgesetzt. Das Konstrukt von Sinti und Roma als Kriminelle hat Eingang gefunden bis tief in die Gesellschaft. Das hat auch viel damit zu tun, die eigene Verantwortung von sich zu weisen. Damit Staat und Gesellschaft unschuldig sein können, müssen die Opfer schuldig sein.

taz: Es passierte also eine Schuldumkehr.

Mehmet Daimagüler: Ja, und das zieht sich durch bis heute. Es ist auch ein ganz gemütlicher Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Da geht ein Kommunalpolitiker hin und beklagt, Sinti und Roma würden in Schrottimmobilien wohnen. Als ob die Menschen es sich aussuchen, so zu leben. Aber statt zu schauen, welche wohnungspolitischen Maßnahmen helfen könnten oder wie man kriminellen Vermietern den Riegel vorschiebt, wird den Opfern die Verantwortung zugeschoben.

taz: Noch immer ist Antiziganismus in Polizeibehörden ein großes Problem. Da wird mal in Pressemitteilungen hervorgehoben, die Tatverdächtigen seien Roma, mal steht in der Zeitschrift der Bundespolizei, Roma würden ihren Kindern ein Wertesystem vermitteln, "das für die meisten Europäer kaum vorstellbar erscheint". Wie kann so etwas heute noch sein?

Mehmet Daimagüler: Wenn es um Sinti und Roma geht, verwandeln sich manche Polizeibeamte in Hobbyethnologen. Auf pseudowissenschaftliche und pseudokriminalistische Art wird da der allergrößte rassistische Schmu verbreitet. Auch dafür ist einer der Gründe die fehlende Aufarbeitung des Völkermords. Damals beteiligte Polizisten haben nicht nur ihren Dienst weitergeführt, sondern haben auch Lehrbücher geschrieben, in denen diese Stereotype rauf und runter vermittelt werden. Ein im Grunde genommen unerträglicher Zustand. Zu selten habe ich in meiner anwaltlichen Tätigkeit Positivbeispiele erlebt, die zeigen, dass wir es in Polizei und Justiz nicht mit einem geschlossenen diskriminierenden Block zu tun haben.

taz: Aber Sie haben sie erlebt?

Mehmet Daimagüler: Ich habe die Nebenklage bei einem Prozess in Baden-Württemberg vertreten. Vier junge Nazis hatten eine Wohnwagensiedlung angegriffen. Die Polizei ist von erster Sekunde an einem politischen, antiziganistischen Verdacht nachgegangen. Der Staatsanwalt hat den Umstand in seiner Anklageschrift betont, das Gericht hat der Nebenklage Raum gegeben und klar festgehalten: Es handelte sich um eine rassistische und antiziganistische Tat. Es darf aber nichts mit Glück zu tun haben, ob Betroffene vom Staat ernst genommen werden. Das muss die Regel sein, und dafür brauchen wir Aus- und Weiterbildung in Polizei und Justiz und eine selbstkritische Auseinandersetzung. Das sind langwierige Prozesse, und dafür brauchen wir auch dringend eine bessere Datenbasis. Die seit Jahren diskutierte Studie zu Rassismus in der Polizei etwa muss diesen Teilbereich genau untersuchen. Andere Dinge müssen sofort eingestellt werden, wie etwa die ethnische Zuschreibung von Kriminalitätsphänomenen in Polizeistatistiken.

taz: Was können Sie als Beauftragter denn bei solch gravierenden Missständen ausrichten?

Mehmet Daimagüler: Wenn der Beauftragte sich alleine um das Thema kümmert, wird er krachend scheitern. Was mir Zuversicht gibt, ist, dass wir jetzt eine Bundesregierung haben, die das Thema ernst nimmt. Damit haben wir eine gesellschaftliche Konstellation, die tatsächlich Lösungsansätze entwickeln kann - so etwas gab es in den letzten Jahrzehnten nicht. Als Beauftragter kann ich Aufmerksamkeit schaffen und dazu beitragen, dass Sinti und Roma in ihrer politischen Arbeit, die sie seit Jahren machen, gestärkt werden. Auch über den Haushalt. Wir müssen eine Realität schaffen, in der Sinti und Roma öffentlich zu ihrer Identität stehen können, ohne Ausgrenzungserfahrungen zu erleben. Elementar wichtig ist dabei: Wenn über Sinti und Roma gesprochen wird, dann müssen Sinti und Roma mit am Tisch sitzen.

taz: Wie wird Ihre Position denn im Haushalt ausgestattet sein?

Mehmet Daimagüler: Das ist eine sehr gute Frage und wird noch Gegenstand von Gesprächen sein. Da die Bundesregierung das Thema wie gesagt wichtig nimmt, gehe ich davon aus, dass sich das auch in Zahlen ausdrücken wird.

taz: Nun sind Sie selber nicht aus der Community. Ist das nicht ein Problem?

Mehmet Daimagüler: Beide Modelle haben Vor- und Nachteile. Niemand kennt die Community so gut wie jemand aus der Community, und niemand weiß so gut, was die Menschen erduldet haben und noch erdulden. Ich selber empfand es in den 1990er Jahren als schmerzhaft, wenn auf Podien Biodeutsche sagten, sie könnten die Rassismuserfahrungen der Menschen nachempfinden. Nein, können sie nicht. Als Außenstehender kann man sich dem Schmerz nur annähern. Gleichzeitig kann ein Nichtmitglied in dieser Funktion deutlicher machen, dass Antiziganismus kein Problem der Sinti und Roma ist, für das sie selbst nach innen Lösungsvorschläge finden müssen. Sondern, dass das Problem unsere gesamte Gesellschaft betrifft und von dieser gelöst werden muss.