Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Stephan Weil,
sehr geehrte Frau Staatssekretärin,
sehr geehrter Herr Professor Priebs
sehr geehrte Damen und Herren,
I.
vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Ich bin heute gerne zu Ihnen gekommen.
Demografischer Wandel - darüber diskutieren wir seit vielen Jahren. Wir haben das Gefühl, vor großen Herausforderungen zu stehen. Und so richtig wohl fühlen wir uns dabei nicht, auch wenn wir versuchen, die Chancen zu sehen und zu nutzen.
Ministerpräsident Weil hat es eben schon gesagt: Wir werden weniger und wir werden immer älter. Ob Deutschland nun die niedrigste Geburtenrate der Welt hat, wie es in der letzten Woche hieß, oder eine der niedrigsten, macht dabei keinen Unterschied.
Ich will allerdings auch ganz deutlich sagen: Es ist gut, dass die Lebenserwartung in unserem Land steigt. Mein persönlicher Eindruck vom demografischen Wandel ist sehr konkret und hat viel mit meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern zu tun. Dort spürt und sieht man die Veränderungen schon deutlich. Zumal sich dort der Strukturwandel seit der Wende und der demografische Wandel überlagern und manchmal verstärken. Besonders in ländlichen, strukturschwachen Regionen sieht man, welche Auswirkungen eine rückläufige Einwohnerzahl hat. Etwa, wenn es im eigenen Ort keinen Arzt mehr gibt und der nächste Supermarkt kilometerweit entfernt ist.
Ich habe aber auch ermutigende Eindrücke bekommen. Junge Leute wandern ab, aber junge Leute kommen mittlerweile auch wieder zurück. Besonders für Familien sind manche ländlichen Regionen sehr attraktiv. Aber dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Deshalb ist es gut, dass die Entwicklung des ländlichen Raumes hier besonders im Fokus steht.
II.
Demografischer Wandel ist spürbar, und wir kennen die Zahlen. Gleichzeitig merke ich: Demografischer Wandel ist ein abstraktes Thema. Wenn man mit den Menschen spricht, ist es nicht der "Demografische Wandel", der sie bewegt, sondern ganz konkrete Fragen:
"Bleibt die Buslinie in die nächste größere Stadt?"
"Bleibt die Schule in meinem Ort erhalten?"
"Was mache ich, wenn mein Vater pflegebedürftig wird?"
"Was passiert, wenn unsere Hausärztin in Rente geht? Wird sie eine Nachfolgerin finden?"
Für mich wird dadurch deutlich: Wir müssen den demografischen Wandel auf ganz konkrete Fragen herunterbrechen. Also einerseits Strategie. Denn der demografische Wandel wirkt in vielen Bereichen und muss deshalb ressort- und bereichsübergreifend gestaltet werden. Und gleichzeitig Dialog: mit den Älteren, mit den Jüngeren, auf kommunaler Ebene, aber auch zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf Länder- und Bundesebene.
Die Bundesregierung arbeitet seit 2012 an einer themen- und ressortübergreifenden Demografiestrategie. Da gibt es zehn Arbeitsgruppen, und ähnlich wie in Niedersachsen geht es um Bildung, um Zuwanderung, um Familienpolitik und viele andere Zukunftsthemen.
Oft wird, wenn vom demografischen Wandel die Rede ist, zuerst von der zunehmenden Zahl älterer Menschen gesprochen. Ich will es heute umgekehrt machen:
Ich fange mit den Jugendlichen an und will mich dann vor allem auf die mittlere Generation konzentrieren: die Männer und Frauen zwischen 25 und 45, die berufstätig sind, Kinder kriegen sollen, ihre älteren Familienangehörigen pflegen und möglichst auch noch ein, zwei Ehrenämter haben sollen. Die arbeitende Mitte ist gleichzeitig die Sandwich-Generation des demografischen Wandels.
III.
Die Jugend war in der Demografiestrategie der Bundesregierung bis 2013 überhaupt nicht vertreten. Mir war es wichtig, das zu ändern. Ich habe deshalb im vergangenen Jahr die Arbeitsgruppe "Jugend gestaltet Zukunft" ins Leben gerufen. Das Besondere an dieser Arbeitsgruppe ist, dass ihre Mitglieder mit den Jugendlichen sprechen und zwar vor Ort! Von Vorpommern-Rügen über Lichtenfels, in den Kyffhäuserkreis und den niedersächsischen Landkreis Friesland. In diesen vier Landkreisen werden Beteiligungsprojekte entwickelt und vor Ort umgesetzt. Junge Menschen werden dabei direkt einbezogen; sie reden und diskutieren mit. Da kommen dann ganz konkrete Vorschläge. Zum Beispiel eine - Zitat - "fette Kennenlernparty" - für Leute, die in einer Gemeinde neu hinzuziehen.
Ich würde Ihnen sehr empfehlen, das in die niedersächsische Demografiestrategie aufzunehmen!
Oder Online-Schulen per Videokonferenz, wo Schülerinnen und Schüler in räumlicher Nähe begleitend Lerngruppen bilden und sich ihren Stoff selbst einteilen. So konsequent denkt keine Expertenkommission!
Ein großes Thema ist auch der öffentliche Nahverkehr: Wie kommt man abends ohne Auto in die nächstgelegene Stadt und wieder zurück?
Mir ist es wichtig, die Vorschläge der Jugendlichen ernst zu nehmen. Sie haben keine Denkblockaden, das zeigt das Beispiel mit den Online-Schulen. Viele Vorschläge sind aber auch naheliegend, viele sind gut und praktikabel. Deshalb wird einiges von dem, was in den Projekten erarbeitet wird, in die Demografiepolitik der Bundesregierung einfließen. Ich bin überzeugt: Wer an Prozessen beteiligt wird, wessen Meinung Wertschätzung erfährt, ist auch bereit, Verantwortung zu übernehmen und mitzugestalten.
IV.
Sehr geehrte Damen und Herren,
auch Familien antworten, wenn man sie fragt, was sie stört, nicht: der demografische Wandel. Aber sie sagen zum Beispiel: Wir brauchen mehr Zeit. Damit bin ich bei der mittleren Generation.
Die "Sandwich-Generation" steht unter dem Druck, Leistung im Beruf zu erbringen, Zeit für die Familie und immer häufiger auch für die Pflege von Angehörigen zu haben. Und das wiederum hat mit der demografischen Entwicklung zu tun. Immer weniger junge Menschen sorgen für immer mehr Ältere. Mein Ziel ist es, Familien bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen.
Denn ich bin davon überzeugt, dass diese Perspektive viele Menschen schon davon abschreckt, Kinder zu bekommen, obwohl sie sich eigentlich Kinder wünschen. Auch das ist ein Grund für die niedrigen Kinderzahlen.
Ich habe deshalb zu Beginn dieser Legislaturperiode das Modell einer Familienarbeitszeit in die politische Diskussion eingebracht. Die Reaktionen waren zunächst kritisch bis ablehnend.
Das ist immer so: Die politischen Gegner fallen über neue Ideen her, wenn sie nicht die eigenen sind, und die Wirtschaft ruft reflexhaft "Bürokratie!" Und genau da habe ich gemerkt, dass es sich lohnt, hier am Ball zu bleiben.
Ich freue mich sehr, dass die Diskussion um die Frage, wie Familie und Arbeitswelt besser miteinander in Einklang gebracht werden können, mittlerweile immer mehr Fahrt aufnimmt. Ich bin froh, dass die Diskussion um die Familienarbeitszeit mittlerweile ganz anders geführt wird. Die Medien greifen das Thema sehr differenziert auf. Übrigens nicht in der Beilage "Schöner leben", sondern in den Wirtschaftsteilen. Und auch die Wirtschaft ist interessiert. Die Unternehmen wissen längst, dass eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf dazu beiträgt, Fachkräfte an sich zu binden und neue zu werben. Das zeigt, welchen Stellenwert das Thema "Beruf und Familie" mittlerweile für die Wirtschaft und die Gesellschaft hat.
Wie könnte eine Familienarbeitszeit in der Praxis aussehen? Der Leitgedanke der Familienarbeitszeit ist, dass Männer und Frauen in Familienphasen beide vollzeitnah arbeiten können. 30 bis 35 Wochenstunden zum Beispiel. Die Väter würden ihre Wochenarbeitszeit etwas reduzieren und Frauen würden im Schnitt ihre Wochenstunden erhöhen. Beide könnten sich die Aufgaben in Familie und Beruf gleichmäßiger aufteilen. Beide hätten Zeit für die Familie und für den Job. Das bedeutet ein besseres Auskommen für die Familien und eine bessere finanzielle Absicherung der Mütter. Vor allem aber entspricht es Wünschen der Eltern: Viele Väter, die Vollzeit arbeiten und Überstunden leisten, wünschen sich, etwas weniger zu arbeiten und mehr Zeit für ihre Familie zu haben. Viele teilzeitbeschäftigte Mütter würden dagegen gerne ihre Arbeitsstunden etwas erhöhen. Dabei geht es nicht mehr nur um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit kleinen Kindern.
Es geht irgendwann auch darum, Zeit für die eigenen Eltern zu haben, die nach und nach mehr Unterstützung im Alltag brauchen. Oder auch um pflegebedürftige Angehörige. Diese mittlere Generation – nicht mehr ganz jung und noch nicht alt - spürt zunehmend auch die Auswirkungen des demografischen Wandels.
Ich will erreichen, dass die Bedürfnisse dieser Generation, die von mehreren Seiten unter Druck steht, besser berücksichtigt werden. Familien brauchen mehr Zeit: Für Kinder, für den Job und für die Pflege ihrer Angehörigen. Wir haben die Familienarbeitszeit noch nicht. Aber wir arbeiten daran.
V.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir reden in Deutschland viel über Infrastruktur. Neu ist, und das hat, glaube ich, auch mit dem demografischen Wandel zu tun: Wir verstehen darunter nicht mehr nur Dinge wie Brücken, Straßen und Schienen. Der Vorsitzende des Deutschen Industrie- und Handelskammertages hat in der letzten Woche ganz deutlich gesagt: Zur Infrastruktur im demografischen Wandel gehören Kindergärten und Ganztagsschulen. Deshalb bleibt der Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Verbesserung ihrer Qualität weiterhin ein Topthema. Mit Herrn Ministerpräsident Weil habe ich einen engagierten Mitstreiter an meiner Seite. Das aktuelle, dritte Investitionsprogramm des Bundes in die Kitas ist auch ein Investitionsprogramm in Qualität. Gute Kinderbetreuung im demografischen Wandel heißt, dass die Kinder, die wir hier in Deutschland haben, bestmögliche Bildungschancen bekommen. Und dass die Kinder, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, die Sprache lernen und sich hier einleben können.
Dafür braucht es die richtigen Rahmenbedingungen:
- eine gute Erzieher/innen-Ausbildung und Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung;
- einen Personalschlüssel, der genügend Zeit für jedes Kind und für die mittelbare pädagogische Arbeit gibt,
- und eine angemessene Ausstattung von Unterstützungssystemen wie der Fachberatung.
Ich begrüße es sehr, dass Niedersachsen eine feste dritte Betreuungskraft für Krippen gesetzlich festgeschrieben hat. Das ist genau die richtige Richtung. Ich habe mich mit den zuständigen Ministerinnen und Ministern der Länder sowie Vertreterinnen und Vertretern der Kommunen im November 2014 auf einen Prozess zur Entwicklung gemeinsamer Qualitätsziele für die Kindertagesbetreuung geeinigt. Wir stehen am Anfang, aber ich bin zuversichtlich, dass Bund und Länder gemeinsam zu guten Lösungen kommen werden.
VI.
Wenn wir es schaffen,
- gute Bildungschancen für alle Kinder von Anfang an zu schaffen
- und für die Familien die „Rush Hour“ des Lebens mit besserer Vereinbarkeit zu entzerren,
dann wird es uns auch leichter fallen, die höhere Lebenserwartung als Chance zu begreifen. In den Köpfen der Jugendlichen gibt es sowieso keinen Generationenkonflikt. Zwei Drittel der jungen Leute verstehen sich gut mit älteren Menschen, und 60 Prozent glauben, dass Jung und Alt gleichermaßen voneinander profitieren. Aber man muss Ältere und Jüngere gezielt zusammenbringen. Denn außerhalb der Familie haben sie sonst selten Kontakt. Ein schönes Beispiel, wie Ältere von Jüngeren und Jüngere von Älteren lernen können, stammt aus Niedersachsen, aus dem Mehrgenerationenhaus Lüneburg. Da lernen junge Studentinnen und Studenten - tatsächlich sind auch ein paar Männer dabei - Handarbeitstechniken von Älteren. Sie können es mir glauben: Stricken und sticken, das kommt wieder, das ist wieder modern! Im Nebenraum helfen Schülerinnen und Schüler den Älteren im Umgang mit Computer und Handy. Das Mehrgenerationenhaus Fürth vermittelt sogar "Wunschenkel" an Ältere und "Wunschgroßeltern" an Kinder, deren Oma und Opa vielleicht weit weg wohnen oder schon tot sind. In den 450 Mehrgenerationenhäusern entstehen Gemeinschaften zwischen Alt und Jung und zwischen unterschiedlichen Kulturen. Ich bin deshalb sehr froh, dass die Zukunft der Mehrgenerationenhäuser mit der Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern nunmehr gesichert ist.
VII.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir können den demografischen Wandel nicht aufhalten, aber wir können ihn gestalten. Wir brauchen dafür ein strategisches Vorgehen, weil der demografische Wandel viele Themen überspannt, die miteinander zusammenhängen. Das versuchen wir als Bundesregierung, das macht das Land Niedersachsen, und wir arbeiten dabei auch zusammen. Denn wir brauchen Partnerschaften und Dialog. Ich bin davon überzeugt: Eine Gesellschaft, die im Dialog den Wandel gestaltet, kann lebenswerter und vielfältiger werden. Wenn das Schreckgespenst des demografischen Wandels uns hilft, in diesem Land über Zukunftsthemen ins Gespräch zu kommen und dabei vielleicht auch einmal neue Wege zu gehen, dann hat er definitiv sein Gutes. Ich bin jetzt sehr gespannt darauf, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und von Ihren Erfahrungen zu lernen.