Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, am 1. Dezember 2005 im Deutschen Bundestag, Berlin

Anrede,

der Koalitionsvertrag ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen Familienpolitik. Wir wollen mehr Kinder in den Familien und mehr Familie in der Gesellschaft. Wir investieren in Familie. Das Leitbild, an dem wir uns orientieren, meint mehr als einen Familienlastenausgleich: das auch, aber nicht nur. Familie ist mehr als eine Oase der Innerlichkeit oder des Rückzugs: Das auch, aber nicht nur. Familie ist der Ort, wo Menschen für andere und für sich Verantwortung übernehmen. Familie ist der Ort, von dem Kinder aufbrechen in ein hoffentlich glückliches Leben. Familie ist der Ort, wo Menschen immer wieder neu ein gemeinsames Leben handeln und verhandeln. Familie ist der Ort, wo beide Eltern sich für beides verantwortlich fühlen, für das wirtschaftliche wie für das emotionale und seelische Wohlergehen der Kinder. Und Familie muss wieder zu einem Erfolgsmodell in der Gesellschaft werden.

Um dahin zu kommen, müssen wir aber auch bereit sein, unsere Einstellungen, Klischees und schnellen Urteile zu überprüfen. Die Botschaft, die heute ja aus allen Kanälen und Chefetagen auf die jungen Menschen niederprasselt, ist ziemlich eindeutig und verheerend: "Wer beruflichen Erfolg im Leben nicht ausschließen will, sollte Kinder und Familie, Sorge und Verpflichtung für andere meiden, weil sie auf dem Weg durch ein spannendes Leben nur behindern." Ich weiß aus Erfahrung: Das ist erstens nicht wahr. Und ich bin zweitens der Meinung: Eine Gesellschaft, die so programmiert ist, wird in doppelter Hinsicht scheitern. Sie wird dadurch sozial kälter und ökonomisch nicht erfolgreicher werden.

Familien brauchen vor allem drei Dinge: Zeit, eine unterstützende Infrastruktur und Einkommen. Aber damit Familien überhaupt entstehen, müssen wir die Rahmenbedingungen so verändern, dass junge Männer und Frauen Kinder, Familie und Beruf in ihrem Lebenslauf besser als gegenwärtig Raum geben, Raum verschaffen können. Somit ist es eine konservative, weil bewahrende Aufgabe, Familie auch und gerade unter veränderten Bedingungen wieder leichter möglich zu machen. Mögen sich manche noch so nostalgisch an die fünfziger Jahre erinnern - sie kommen nicht wieder zurück. Aber ob Familienwerte heute gelebt werden können, darüber entscheidet unser Handeln, auch die politische Tat. Und es ist eine soziale Aufgabe, mit und durch Familien den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken und dafür zu sorgen, dass möglichst alle Kinder von Anfang an ihre Talente und ihre Fähigkeiten optimal entwickeln können.

So betrachtet, rückt Politik für die Familien vom Rand in die Mitte einer zukunftsorientierten Gesellschaftspolitik. Sie stellt, so oder so, die Weichen in viele Richtungen: Ob wir wieder in den Bildungsbilanzen, in PISA nach vorne kommen? Ob wir nachhaltig Wohlfahrt und Wohlstand sichern? Ob wir ein lebendiges Land werden, lebenswert und attraktiv im globalen Wettbewerb?

Politik für die Familien ist Politik für die Zukunft! Wer die Zukunft gewinnen will, muss bereit sein, neue Wege zu gehen und starke Akzente zu setzen. Und deshalb haben wir für eine ganzheitliche und nachhaltige Familienpolitik im Koalitionsvertrag entscheidende Meilensteine verankert: Im Jahr 2007 wird das einkommensabhängige Elterngeld das derzeitige Erziehungsgeld ablösen. Die Eltern erhalten 67 Prozent des vorherigen Nettoerwerbseinkommens für ein volles Jahr bis zu einer Höchstgrenze von 1.800 Euro. Dies ermöglicht den Familien, sich gerade im ersten Lebensjahr ohne Geldsorgen intensiv ihrem Kind zu widmen; wir wissen, dass dies für die meisten  jungen Eltern von hoher Bedeutung ist.

Das Signal des Staates ist: Jedes Kind ist eine Bereicherung für uns alle, deshalb mildern wir Einkommenseinbrüche im ersten Lebensjahr nach der Geburt eines Kindes ab. Das gilt für Eltern, die sich für die Betreuung des Kindes entschließen. Das gilt ebenso für Eltern, die weiter erwerbstätig bleiben und damit hohe Kinderbetreuungskosten haben. Wir wollen es außerdem Müttern und auch Vätern erleichtern, Elternzeit zu nehmen. Acht Monate ist es den Eltern völlig freigestellt, wie sie die Elternzeit aufteilen, ob und in welchem Maß sie erwerbstätig sind. Zwei Monate sind zusätzlich für den Vater und zwei Monate zusätzlich für die Mutter reserviert.

Die Muttermonate sieht wohl jeder als selbstverständlich an. Die Vatermonate sollten es eigentlich auch sein. Kinder brauchen Mütter, aber Kinder brauchen auch Väter. Und Väter wie Mütter wollen ihre Fähigkeiten im Arbeitsmarkt entfalten können. Die Vatermonate werden ein wichtiger weiterer Schritt auf dem Weg zu einer veränderten Arbeitskultur sein, die hoch effizient und dennoch familienverträglich sein wird. Diese elementare Erfahrung, dass Kindererziehung und die Talente der Eltern in der Arbeitswelt einander nicht ausschließen, sondern bestärken können, nutzen wir viel zu wenig in Deutschland. Sie ist aber Grundvoraussetzung, wenn Kindererziehung in einem modernen Land inmitten einer globalisierten Welt eine Zukunft haben soll. Norwegen und Schweden beispielsweise haben bereits gute Erfahrungen mit diesen Vatermonaten gemacht. Fast 40 Prozent der schwedischen Männer nutzen dieses Angebot. Diesen Ländern, ihrer Prosperität, ihren Kindern hat es nicht geschadet, sondern genutzt.

Das Elterngeld in Verbindung mit dem Ausbau der Kinderbetreuung für Unterdreijährige bedeutet auch, dass in Zukunft die Möglichkeit zu einer spürbaren Senkung von Familienarmut besteht. Wenn junge Frauen - auch aus einfachen Berufen - bei Geburt eines Kindes mit dem Elterngeld zunächst für ein Jahr im Berufsleben pausieren, danach aber eine gesicherte und bezahlbare Kinderbetreuung vorfinden und nutzen, dann wird es viel weniger Familien geben, die von nur einem Einkommen oder nur aus Transfermitteln leben müssen. Nicht Kinder machen arm, sondern Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern keine Arbeit haben, oder den Wiedereinstieg ins Berufsleben nicht mehr finden. Das Elterngeld fördert eine feste Berufsidentität von Frauen. Es verdeutlicht, dass sie in ihrem Beruf verankert bleiben, setzt Familienzeit nicht länger in einen Gegensatz zur Erwerbstätigkeit.

Wir müssen auch wieder entdecken, dass Familien, die nach dem Prinzip der Subsidiarität sich einsetzen um ihre Kinder zu erziehen und ihr Einkommen zu erwerben, auch Arbeitplätze schaffen. Deshalb wird diese Bundesregierung dafür sorgen, dass Eltern steuerlich entlastet werden bei den Kinderbetreuungskosten und bei den haushaltsnahen Dienstleistungen. Und wir werden den Kinderzuschlag weiterentwickeln.

Wir brauchen eine Politik, die Mut zu Kindern macht. Wir brauchen aber auch eine Politik, die sich mehr um die Kinder kümmert, die heute heranwachsen. Kein Kind darf verloren gehen. Jedes Kind ist wichtig, um die wirtschaftliche, emotionale und soziale Zukunft des Landes zu sichern. Und nur wenn alle Familien ihren Kindern wieder Kraft und Bildungsbereitschaft vermitteln können, werden sie die erforderlichen Kompetenzen für Innovation und Tatkraft erwerben können. Es gibt zunehmend Kinder in unserem Land, die in einer Atmosphäre der Erziehungsohnmacht aufwachsen, sie erfahren und erleiden körperliche und seelische Verwahrlosung, der zuverlässigste Ansprechpartner ist vielleicht noch der Fernseher im Wechsel mit dem Computer. Diese Kinder lassen wir an ihrem Lebensanfang verkümmern. Hier müssen wir früher hinschauen. Mit Modellprojekten zur Frühförderung für gefährdete Kinder werden wir dafür sorgen, dass Hilfe in diese Familie und damit zu den Kindern kommt.

Die Familienstrukturen verändern sich. Die Großfamilie verschwindet, das kann man beklagen, aber es ist eine Tatsache. Damit schwindet aber auch der selbstverständliche Zusammenhalt der Generationen. Erziehungswissen und Alltagskompetenzen gehen verloren. Aber auch Erfahrung, Gelassenheit und Muße der älteren Generation bleiben ungenutzt. Stattdessen wird Einsamkeit immer mehr zum Altersproblem. Wir wollen den familienpolitischen Horizont auf die Mehrgenerationenfamilie ausweiten. Die Öffnung des Horizontes geschieht nicht nur aus menschlichen und emotionalen Gründen, sondern weil sich nur mit diesem erweiterten Blick ganz handfeste Chancen nutzen und Probleme lösen lassen. Wir wollen ein Leitbild eines "produktiven Alterns": Die älteren Menschen sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Das muss uns leiten.

Familie ist im wahrsten Sinne des Wortes der ursprüngliche Ort, wo Alltagssolidaritäten gelebt werden. Auch wenn Familie kleiner, bunter und mobiler wird - auf das Geben und Empfangen von Alltagssolidaritäten können wir nicht verzichten. Wir müssen deshalb moderne neue Netze schaffen, gewissermaßen die Vorteile der früheren Großfamilie in moderne Sozialstrukturen übertragen. Wir werden deshalb Mehrgenerationenhäuser als familienunterstützende Zentren schaffen.

  • Sie erschließen bürgerschaftliches Engagement,

  • sie machen Zusammenhalt erfahrbar,

  • sie geben Alltagskompetenzen und Erziehungswissen weiter

  • und sie geben Antworten darauf, wie die Generationen sich untereinander helfen können in einer Gesellschaft des langen Lebens.

Politik für die Familien ist nicht nur alles andere als ein "weiches" Thema oder eine Unterabteilung der Sozial- oder Transferpolitik, sondern ganz im Gegenteil ein Handlungsfeld, das Weichen stellt und so darüber mitentscheidet, wie in dieser Gesellschaft Bildung, Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt sein werden. Das Ziel, mehr Kinder in die Familien und mehr Familie in die Gesellschaft zu bringen, erfordert eine schöpferische Politik, und es erfordert zum Teil auch andere Wege, als sie frühere Regierungen gegangen sind. Wir wollen erneuern, um zu bewahren. Der demographische Wandel kann nicht nur Krise, sondern auch Chance bedeuten. Er kann gestaltet  werden. Wir wollen diese Herausforderung annehmen.