Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Professor Scheer, sehr geehrter Herr Rohleder, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren!
Vermutlich verdanke ich diese freundliche Einladung nicht nur meiner Ressortzuständigkeit. Vermutlich verdanke ich sie auch ein bisschen dem Umstand, dass ich das Politikerklischee des digitalen Analphabeten widerlege, der sich Emails ausdrucken lässt und flashmobs für den Nachfolger des Vileda-Wischmobs hält. Dieses Klischee hält sich so hartnäckig, meine Damen und Herren, dass man als Politikerin mit Facebook-Profil und Twitter-Account im Vergleich schon fast als Nerd durchgeht. Meine persönliche Erfahrung damit: Mit Twitter erreicht man Leute, die man ansonsten wohl nicht direkt erreichen würde, weil sie nie in eine Bürgersprechstunde kämen. Das ist ein ganz klarer Vorteil.
Ein weiterer Vorteil: Man kriegt über die Replies häufig noch einmal ein ganz anderes Gespür für kritische Punkte als beim Aktenlesen. Einen Nachteil gibt es aber auch. Das sind die widersprüchlichen Erwartungen: Man soll sich gefälligst kurz fassen, aber wenn man in einem Tweed eine politische Botschaft unterbringt, heißt es, das sei ja jetzt nicht wirklich fundiert. Neulich bin ich zum Beispiel auf Twitter gefragt worden, was meine Familienpolitik ausmacht. Was soll ich da antworten, in 140 Zeichen? Trotzdem finde ich es wichtig, dass auch wir Politiker uns auf die neuen Formen der Kommunikation im Netz einlassen. Denn wie die Netzgemeinde tickt, versteht nur, wer selbst ein Stück weit zur Netzgemeinde gehört – oder zumindest hin und wieder mal vorbei schaut.
Und nur wer versteht, wie die Netzgemeinde tickt, kann beurteilen, wo die Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns in der Netzpolitik liegen. Ich freue mich, dass der BITKOM-Verband dieses wichtige Thema aufgreift! Vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Prof. Scheer, lieber Herr Rohleder. Ich nutze gerne die Gelegenheit, heute Abend einige meiner Überlegungen zur Jugendnetzpolitik zur Diskussion zu stellen. Dabei geht es im Wesentlichen um drei Fragen. Erstens: Beteiligt sich die Generation, die mit dem Internet groß geworden ist, anders an politischen Entscheidungsprozessen? Zweitens: Wenn ja, welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für die Politik ganz allgemein und für die Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns? Drittens: Welche Ansatzpunkte für politisches Handeln ergeben sich daraus für die Jugendpolitik?
Zunächst zur ersten Frage, ob die junge Generation ein anderes Politikverständnis hat und sich anders an politischen Prozessen beteiligt: Dazu habe ich quasi druckfrisch einige interessante Ergebnisse der neuen Shell-Jugendstudie mitgebracht, die ich heute Nachmittag der Presse vorgestellt habe. Aus der Studie geht hervor: Fast alle Jugendlichen, nämlich 96 Prozent, haben inzwischen einen Zugang zum Internet. 2002 waren es erst 66 Prozent. Da hat sich also viel getan in den letzten zehn Jahren.Das sieht man auch an der Zeit im Netz, die sich in den letzten acht Jahren fast verdoppelt hat: Im Durchschnitt sind Jugendliche inzwischen fast 13 Stunden pro Woche online. 2006 waren es noch weniger als zehn Stunden und 2002 nur sieben Stunden. Am häufigsten nutzen Jugendliche das Internet als soziales Netzwerk: 50 Prozent sind so gut wie täglich und weitere 22 Prozent regelmäßig und mehrfach in der Woche bei Facebook, Lokalisten, Schüler- oder Studi-VZ oder auf ähnlichen Plattformen unterwegs.
Aber nicht nur quantitativ hat sich in puncto Internetnutzung in den letzten Jahren viel geändert. Auch die Art und Weise der Nutzung verändert sich. Mehr und mehr Jugendliche fangen an, sich über das Internet an gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen zu beteiligen. So gaben 31 Prozent der in der Shell-Studie befragten Jugendlichen an, dass sie sich vorstellen könnten, sich im Internet oder über Twitter kurzfristig über Aktionen zu informieren und dann dort mitzumachen. Zum Vergleich: Gerade mal 17 Prozent können sich vorstellen, in einer Partei oder politischen Gruppe mitzuarbeiten. Das zeigt: Die jüngere Generation ist keineswegs politisch desinteressiert. Junge Leute wollen sich einmischen, ihre Meinung sagen und mitbestimmen.
Aber sie treten dafür nicht mehr unbedingt in die JU ein oder bei den Jusos, so wie das in meiner Generation noch ganz selbstverständlich war, wenn man mitgestalten wollte. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für die Politik – und insbesondere für die Jugendnetzpolitik?
Einen ersten Eindruck davon habe ich bekommen, als ich mich auf die "Bürgerkommunikation 2.0" über Facebook und Twitter eingelassen habe. Natürlich soll man das nicht überbewerten.
Viele junge Internetnutzer posten lieber in Gruppen mit programmatischen Namen, wie etwa "Abends ARONAL – Morgens ELMEX … mal was riskieren". Oder: "Wenn man keine Tiere essen soll, warum sind sie dann aus Fleisch?" Oder: "Ich benutze mein Handy, um im Dunkeln zu sehen." Diese Gruppe hat übrigens knapp 800.000 Mitglieder weltweit. Ich habe bei Twitter 11.200 Follower. Insofern bin ich mir durchaus bewusst, dass nicht alle jungen Internetnutzer auf twitternde Politiker gewartet haben. Und dass der Unterhaltungswert, den ich bieten kann, wenn ich zum Sparpaket der Bundesregierung poste, vergleichsweise gering ist.
Was ich aber bieten kann, ist Information und Meinung, und an den Replies sehe ich dann: Es gibt genügend Leute im Netz, die sich auch dafür interessieren. Fest steht: Wir brauchen viel mehr politische Diskussionen, online wie offline! Deshalb sollten wir uns in der Politik Gedanken machen, wie wir die Möglichkeiten des Web 2.0 nutzen können, um die junge Generation zu erreichen. Undwie wir mit den neuen Möglichkeiten des Internets neue Formen der Beteiligung an demokratischen Prozessen entwickeln können.
Damit ist es aber noch nicht getan. Ich glaube, wir müssen uns in der Politik auch daran gewöhnen, dass wir für bestimmte Entscheidungen andere Entscheidungsverfahren brauchen, die mehr Beteiligung ermöglichen, weil es sonst keine Akzeptanz für diese Entscheidungen gibt.
Ich nenne mal ein Beispiel: Sie erinnern sich bestimmt an die hitzige gesellschaftliche Debatte über Netzsperren vor gut einem Jahr. Obwohl vermutlich niemand das legitime Schutzbedürfnis von Kindern bestreiten würde, löste allein die Ankündigung staatlicher Interventionsmaßnahmen gegen Seiten mit kinderpornographischen Inhalten einen Sturm der Entrüstung in der Netzgemeinschaft aus. Die Politik musste sich den Vorwurf der Zensur gefallen lassen, als ginge es darum, chinesische Verhältnisse in Deutschland einzuführen. Umgekehrt sahen sich die Gegner von Netzsperren mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würden mit ihrem Ruf nach Freiheit im Netz den Kindesmissbrauch dulden, wenn nicht gar fördern. Missverständnisse, Vorurteile und falsche Unterstellungen auf beiden Seiten prägten die Diskussion.
Geredet wurde hauptsächlich übereinander, aber nicht miteinander. Eine der Hauptursachen war aus meiner Sicht, dass die Politik Maßnahmen zum Kinder- und Jugendschutz nach den normalen Regeln des politischen Betriebs gesetzgeberisch umsetzen wollte, ohne die Netzgemeinde einzubinden. Der Umgang mit Seiten mit kinderpornographischem Inhalt ist ein Beispiel für einen Fall, wo politische Maßnahmen mehr Aussicht auf Erfolg haben, wenn wir gemeinsam mit der Internet-Community nach kreativen, praktikablen und für alle Seiten akzeptablen Lösungen suchen.
Das gilt aus meiner Sicht für den Kinder- und Jugendschutz im Netz ganz allgemein: Mit Verboten kommen wir hier nicht sonderlich weit. Wir brauchen die Unterstützung und auch die Fachkompetenz und die Ideen derjenigen, die im Netz zuhause sind. Deshalb halte ich die Einbindung der Online-Community für die wichtigste Grundlage einer wirksamen Kinder- und Jugendnetzpolitik. Dazu müssen wir anerkennen, dass Kommunikation und Meinungsbildung im Netz anderen Regeln folgen als wir das in der Politik bisher gewöhnt waren. In den zuständigen Gremien Beschlüsse fassen, diese dann auf einer Pressekonferenz verkünden und, wenn überhaupt, erst hinterher bei der Internet-Community dafür werben - das funktioniert in der Jugendnetzpolitik nicht.
Da prallen Kulturen aufeinander. Deshalb haben wir im Bundesjugendministerium für die Entwicklung einer Jugend-Netzpolitik der Zukunft den Dialog Internet als Plattform geschaffen.
In zwei Wochen werde ich diese Initiative ganz offiziell starten: Mit Vertretern der namhaften Kinder- und Jugendschutzeinrichtungen, mit renommierten Medienpädagogen und -wissenschaftlern, mit Vertretern der Internetwirtschaft und mit Vertretern der Netzgemeinde. Wir werden über die Risiken und Chancen der digitalen Welt für Kinder und Jugendliche reden. Ich habe natürlich eigene Vorstellungen, was wir für einen wirksamen Kinder- und Jugendschutz im Netz brauchen: Zum Beispiel ein Verfallsdatum für bestimmte Daten, die man selbst einstellt, insbesondere für Fotos und für Kommentare. Zum Beispiel die automatische Voreinstellung der höchsten Stufe an Privatsphäre in sozialen Netzwerken, so dass man sich bewusst für weniger Sicherheit und Privatsphäre entscheiden muss. Zum Beispiel Meldebuttons, mit denen man Fälle etwa von Cybermobbing oder rassistische Parolen bei den Anbietern von Web 2.0-Anbietern melden kann – und zwar auch dann, wenn man keinen eigenen Account hat. Und nicht zuletzt brauchen wir auch präventive Maßnahmen, die die Medienkompetenz von Jugendlichen und ihrer Eltern stärken. Dazu gibt es bereits verschiedene Programme und Initiativen meines Ministeriums. Wir setzen hier auf Kompetenz statt Kontrolle, denn ich bin überzeugt: Kinder und Jugendliche sind dann am besten geschützt, wenn wir ihnen helfen, sich selbst zu schützen. Aber die genannten Punkte sind erst einmal nur Vorschläge: Ich will gerade nicht mit fertigen Lösungen in den Dialog Internet gehen. Mein Ziel ist es, mit allen, die sich einbringen wollen, Handlungsempfehlungen für eine zeitgemäße Kinder- und Jugendpolitik im digitalen Zeitalter zu erarbeiten. Deshalb soll der Dialog Internet transparent und offen sein für alle Interessierten. Dazu gibt es zum Beispiel eine Online-Dialogplattform für den Bürgerdialog: Hier kann man sich informieren, und jeder, der etwas beitragen will, kann sich hier mit seiner Meinung und seinen Ideen beteiligen.
Gleichzeitig gehen wir auch in die sozialen Netzwerke, richten Diskussionsforen ein und eine Social-App. Denn gerade die Jüngeren wollen wir mit dem Dialog Internet erreichen: Die Jugendlichen selbst sollen die Möglichkeit haben, mitzuteilen, was sie sich im Hinblick auf Schutz und Chancen im Internet wünschen. Ein großer Fehler wäre es jedenfalls, meine Damen und Herren, das Internet einseitig als Gefahrenzone für Kinder und Jugendliche zu sehen. Das würde weder der Bedeutung des neuen Mediums im Informationszeitalter gerecht,noch seinem – auch im positiven Sinne prägenden – Einfluss auf Kinder und Jugendliche. Denn wenn es zutrifft, was Studien immer wieder belegen, (z.B. dpa-Meldung vom 9.9.2010 über eine breit angelegte Studie der VZ-Gruppen) dass das Internet – und nicht mehr das Fernsehen – das Leitmedium der jungen Generation ist, dann liegt darin auch eine große Chance.
Die "geistige Einzäunung", die der Soziologe Pierre Bourdieu noch in den 90er Jahren in seinen berühmten Vorlesungen "Über das Fernsehen" als Folge der Jagd nach Einschaltquoten beklagt hatte, weicht ja im Internet einer beinahe grenzenlosen Vielfalt an Stimmen, Perspektiven, Informationen und Meinungen. Könnte es also nicht sein, dass die junge Generation durch ihre Sozialisation im Netz möglicherweise besser auf Pluralismus und Demokratie vorbereitet ist als ältere Generationen, die mit dem Leitmedium Fernsehen groß geworden sind? Der für seine Prognosen zur Zukunft des Internet bekannte kanadische Professor Dan Tapscott beschreibt die "Netzgeborenen! in seinem jüngsten Buch ("Grown up digital") jedenfalls als eine Generation, die – weil sie im Internet zuhause ist – mündiger ist als ihre Eltern. Denn im Gegensatz zum Fernsehen, das eine passive Konsumentenhaltung fördere, rege das Internet zur Aktivität, zum Handeln an. Diese These sieht Tapscott durch seine Untersuchungen bestätigt. In Interviews mit rund 10.000 Menschen ging er der Frage nach, wie es Verhaltensnormen und Wahrnehmungsmuster prägt, wenn Heranwachsende virtuelle Netzwerke pflegen, die eigene Meinung zur Diskussion stellen, den Austausch mit Gleichgesinnten suchen und sich mit eigenen Inhalten präsentieren.
Sein Fazit: Wahlfreiheit, Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und eine aufrichtige, transparente Kommunikation sind für "Netzgeborene" keine auf das Internet beschränkten Regeln. Für die "Generation Internet" sind das grundlegende Normen – ob am Arbeitsplatz, beim Einkauf oder im politischen Meinungsbildungsprozess. Insofern ist die Zukunft des Internets auch eng mit der Zukunft unserer Gesellschaft verwoben. Denn nicht mehr lange, und die Generation der Netzgeborenen wird in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen. Wir dürfen gespannt sein, wie ihr Verständnis von Führung, Kommunikation und demokratischen Entscheidungen den Staat, die Unternehmen und die Zivilgesellschaft verändert.