SPIEGEL Lisa Paus: Ein voller Terminkalender schützt nicht davor, einsam zu sein

Lisa Paus steht auf einem Bahnhof. Im Hintergrund ist eine Frau zu sehen
Bundesfamilienministerin Lisa Paus © Laurence Chaperon

SPIEGEL: Frau Paus, wir reden über Einsamkeit, wann haben Sie sich einsam gefühlt?
 
Lisa Paus: Ich bin im September 2009 in den Bundestag gekommen, drei Monate später hat mein Lebenspartner die erschütternde Diagnose Krebs ohne Heilungschancen erhalten. Unser Kind war noch nicht ganz ein Jahr alt. Als neue Abgeordnete musste ich viel arbeiten, Politik ist kein 40-Stunden-Job. Tagsüber macht man Politik, und abends und am Wochenende muss man das, was man macht, der Partei und der Bevölkerung erklären. Da blieb keine Zeit, Freunde zu treffen, keine Zeit für normales Leben. Da waren nur noch zu Hause kümmern, Politik, Schlaf. Das macht einsam.
 
SPIEGEL: Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?
 
Lisa Paus: In den drei Jahren bis zum Tod meines Mannes hieß es einfach nur: von Tag zu Tag, durchkommen. Den Alltag für meinen Sohn und uns als Familie trotz der Krankheit so heiter und liebevoll wie möglich zu gestalten. Nach dem Tod meines Partners war mir klar: Ich habe eine Verantwortung dem Kind gegenüber, dass das hier stabil weitergeht. Deshalb habe ich mich erkundigt und festgestellt, dass es an der Charité eine Beratungsstelle für Angehörige von sterbenden Menschen gibt. Auch für Kinder. Das palliative Angebot in Berlin war insgesamt sehr hilfreich. Das würde ich mir in ganz Deutschland wünschen. Ich habe dann für mich festgestellt, dass ich zu Hause nicht allein sein wollte. Deshalb habe ich eine Alleinerziehenden-WG gegründet.
 
SPIEGEL: Hat Ihnen die Politik aus der Einsamkeit geholfen?
 
Lisa Paus: Ich habe mich in meiner Partei jedenfalls sehr aufgehoben gefühlt. Aber ein voller Terminkalender schützt nicht davor, einsam zu sein. Man ist zwar ständig unter Leuten und auf vielen Empfängen, aber gerade bei Einsamkeit spielt die Qualität von Beziehungen eine wesentliche Rolle. Ich versuche, diese Erfahrung auch jungen Abgeordneten mitzugeben.
 
SPIEGEL: Seit dem Tod Ihres Mannes sind Sie alleinerziehend. Würden Sie sich als allein oder als einsam beschreiben?
 
Lisa Paus: Weder, noch. Ich bin gut ausgelastet mit meiner Arbeit, aber fühle mich mit all meinen Bedürfnissen auch gut aufgehoben.
 
SPIEGEL: Daten Sie?
 
Lisa Paus: Das bleibt privat. Aber eins kann ich sagen: Ich war früher auch mal auf einem Dating-Portal, aber für eine Person, die in der Öffentlichkeit steht, ist das nur begrenzt zu empfehlen. Und auch, wenn ich mich noch an Peter Harry Carstensen erinnern kann, früher mal Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, der einmal über ein Medium eine Partnersuche gestartet hat - das wäre nicht meine Strategie.
 
SPIEGEL: Werden Sie manchmal auf Empfängen komisch angeschaut, wenn Sie allein kommen?
 
Lisa Paus: Nein. Es ist bei Frauen sogar eher unüblich, dass die Männer dabei sind. Bei Männern ist das eher umgekehrt. Deshalb habe ich da kein Problem.
 
SPIEGEL: Goethe schrieb einmal: Um die Einsamkeit ist's eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt und was Bestimmtes zu tun hat. Ist da was dran?
 
Lisa Paus: Es gibt schon einen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Für mich beschreibt Goethe in diesem Spruch das Thema Alleinsein. Einsamkeit ist etwas anderes, da geht es um eine Lücke zwischen dem, was ich oder wie ich gerade lebe, und dem, was ich spüre, was ich eigentlich an Bedürfnissen habe. Diese schmerzliche Lücke zu spüren, das ist erst mal ein gesundes Empfinden. Das Schwierige besteht dann darin, aktiv zu werden, zu schaffen, das anzugehen.
 
SPIEGEL: Und wenn das nicht gelingt?
 
Lisa Paus: Wenn das nicht klappt, dann droht leider eine Negativspirale. Aus Stimmungstiefs kann chronische Einsamkeit werden, können Depressionen und anderes entstehen. Die Weltgesundheitsorganisation hat festgestellt, dass Einsamkeit ähnlich negative gesundheitliche Auswirkungen hat wie Rauchen oder Fettleibigkeit. Es ist also auch ein gesundheitspolitisches Thema. Vielen fällt es nicht leicht, darüber zu sprechen und sich Hilfe zu suchen. Das Thema ist mit Scham behaftet. Das wollen wir im Familienministerium ändern. Darum habe ich eine Strategie gegen Einsamkeit auf den Weg gebracht, die bundesweit gut angenommen wird.
 
SPIEGEL: Wie einsam fühlen Sie sich eigentlich gerade als linke Grüne in der Koalition?
 
Lisa Paus: Ich fühle mich nicht einsam. Natürlich war ich traurig, dass Omid Nouripour und Ricarda Lang vom Parteivorsitz zurückgetreten sind. Aber gerade in dieser Situation, die wir in Deutschland erleben, mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck, mit Angriffen auf die Demokratie, ist doch klar: Das Land braucht eine selbstbewusste, geschlossene grüne Partei. Ich fühle mich in meiner Partei sehr wohl. Es gibt ein starkes Wir-Gefühl.
 
SPIEGEL: Der Vorstand der Grünen Jugend ist der drohenden Einsamkeit in der Partei entflohen, bevor der Pragmatiker Robert Habeck und seine Leute den Kurs bestimmen.
 
Lisa Paus: Wichtig ist doch, dass ganz viele andere in der Grünen Jugend zu diesem Zeitpunkt gesagt haben: Nein, wir verlassen diese Partei nicht! Sie haben direkt am selben Tag eine Videokonferenz organisiert, zu der sich 700 Leute zugeschaltet haben. Sie haben deutlich gemacht: Das ist hier unsere politische Heimstatt, und wir wollen weiter für die Grünen Politik machen.
 
SPIEGEL: Die Linke ist bei den Grünen also keine einsame Insel?
 
Lisa Paus: Absolut nicht. Schauen Sie sich die Kandidatinnen und Kandidaten für den neuen Bundesvorstand an! Das zeigt doch, dass wir mit neuem Schwung, aber in vereinter Kraft der gesamten Partei und ihrer Stärken aus Kompetenz, Pragmatismus und Leidenschaft politische Kraft entfalten wollen. Mein Eindruck ist, dass in der Partei die vergangenen Wahlen einen Weckruf ausgelöst haben. Die Grünen werden gebraucht, gerade jetzt.
 
SPIEGEL: Unser Eindruck mag auch daran liegen, dass Ihr wichtigstes Projekt, die Kindergrundsicherung, als gescheitert gilt. Macht politischer Misserfolg nicht sehr einsam?
 
Lisa Paus: Richtig ist, dass wir mit der Kindergrundsicherung nicht so weit gekommen sind, wie es nötig wäre, um strukturelle Kinderarmut zurückzudrängen. Ich weiß, was Armut mit Kindern macht. Wie sie ausgeschlossen werden und dadurch deutlich weniger Chancen haben, erfolgreich durchs Leben zu kommen. Im Übrigen wird die Kindergrundsicherung zurzeit intensiv im Bundestag weiter verhandelt. Aber richtig ist auch, dass Robert Habeck und ich in enger Abstimmung ein großes Kinderpaket für den Haushalt 2025 geschnürt haben. Jedes Kind bekommt 25 Euro mehr im Monat, als ihm nach offiziellen Berechnungen des Existenzminimums zustehen würden. Das ist eine klare grüne Handschrift innerhalb der Bundesregierung.
 
SPIEGEL: Sie wurden von Ihrer Partei gerügt, beispielsweise von Ricarda Lang, die etwa Ihre Forderung nach 5.000 neuen Behördenstellen für die Kindergrundsicherung zurückwies. Fühlt man sich in so einem Moment von den eigenen Leuten in die Ecke gestellt?
 
Lisa Paus: Wenn es so gewesen wäre, vielleicht. War es aber nicht.
 
SPIEGEL: Familienpolitik hat für diese Bundesregierung nicht die höchste Priorität, was auch mit den globalen Krisen und dem Krieg in der Ukraine zu tun hat. Fühlen Sie sich an der Spitze eines Ministeriums, das nicht so wichtig genommen wird, manchmal einsam?
 
Lisa Paus: Moment, dieses Ministerium hat auch wichtige Gesetze durchgebracht, zum Beispiel Verbesserungen für Pflegefamilien, das Kitaqualitätsgesetz oder das Gesetz gegen Gehsteigbelästigung. Ich fühle mich da wirklich nicht einsam, wenn wir Millionen Familien und Menschen konkret unterstützen können. Ja, Familienpolitik ist momentan nicht das beherrschende Thema, aber es wird wiederkommen, spätestens im Wahlkampf. Krieg ist aktuell einfach existenzieller als die Reform des Elterngeldes.
 
SPIEGEL: Für viele Menschen ist das Elterngeld in dieser Phase ihres Lebens vermutlich schon existenzieller als ein Krieg, der in einem anderen Land geführt wird.
 
Lisa Paus: Und deshalb ist es gut und richtig, dass es das Elterngeld gibt. Dennoch: Die Auswirkungen des Kriegs auf Deutschland waren und sind immens: Denken Sie daran, wie wir fast von jetzt auf gleich rausmussten aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl, denken Sie an die vielen Geflüchteten aus der Ukraine, die Riesenaufgabe, die europäische Verteidigungsfähigkeit herzustellen. Allerdings ist es in so einer Zeit selbstverständlich ebenfalls ganz wichtig, die Resilienz in der Bevölkerung zu stärken. Und deshalb bin ich froh, dass ich die notwendigen Mittel in meinem Etat für das kommende Jahr dafür sichern konnte. Das ist auch wichtig in Bezug auf Einsamkeit: Die Shell-Jugendstudie hat uns noch mal gezeigt, dass auch Jugendliche sich deutlich einsamer fühlen als früher.
 
SPIEGEL: Bei den Landtagswahlen im Herbst haben auffällig viele junge Leute, vor allem junge Männer, ihr Kreuz bei der AfD gemacht. Gibt es da einen Zusammenhang?
 
Lisa Paus: Bei der Einsamkeit geht es nicht nur um ein individuelles Thema, sondern auch ums große Ganze. Mit jedem Menschen, der sich zurückzieht, entsteht ein Loch. Da entstehen Risse in der Gesellschaft, weil das Vertrauen der einzelnen Person in das Miteinander abnimmt. Das destabilisiert unsere Demokratie und stärkt die politischen Ränder. Das sollte uns zu denken geben.
 
SPIEGEL: Eine konkrete Maßnahme gegen diese Entwicklung ist immer noch nicht umgesetzt: das seit Jahren diskutierte Demokratiefördergesetz. Wo liegt das Problem?
 
Lisa Paus: Das ist kein Geheimnis. Wir haben das Gesetz im Kabinett zusammen beschlossen, und jetzt gibt es einen Koalitionspartner, der will das so nicht.
 
SPIEGEL: Sie können sich bei diesem für Sie wichtigen Thema nicht gegen die FDP durchsetzen?
 
Lisa Paus: Millionen Menschen sind aus allen gesellschaftlichen Schichten in allen Winkeln der Republik letztes Jahr für unsere Demokratie auf die Straße gegangen. Anerkannte Institutionen, die unverdächtig sind, zur linken Speerspitze des Landes zu gehören, fordern es ein. Der Bundesrat hat im ersten Durchgang eine sehr ausgewogene Stellungnahme dazu verabschiedet, aber noch steigt im Bundestag kein weißer Rauch auf. Ein Demokratiefördergesetz ist gut für die Demokratie. Auch ein CSU-Innenminister Horst Seehofer hat das in der letzten Legislaturperiode so gesehen.
 
SPIEGEL: Laut einer Studie, die Sie in Auftrag gegeben haben, leiden Menschen mit Migrationserfahrung besonders unter Einsamkeit, ebenso Arbeitslose, ärmere Menschen, pflegende Angehörige. Verschärft also Ihre Regierung das Problem, wenn sie beim Bürgergeld kürzt und die Kindergrundsicherung nicht umsetzt?
 
Lisa Paus: Es war zunächst wichtig, dass wir die Einsamkeit aus der Tabuzone herausholen, dass wir Wissen darüber schaffen und daraus eine konkrete Strategie entwickeln.
 
SPIEGEL: Da könnten Sie recht einfach mehr tun. Kinder können noch immer nicht unbürokratisch und gebührenfrei an Sportkursen teilnehmen, wie Sie es angekündigt haben. Und die in Aussicht gestellte, umfassende Reform der Familienpflegezeit ist ebenfalls nicht umgesetzt.
 
Lisa Paus: Ich hoffe sehr, dass diese Leistungen noch kommen werden. Zur Pflegezeit arbeiten wir an einem Gesetzentwurf. Da brauchen wir den überparteilichen Konsens.
 
SPIEGEL: Sie haben eine Strategie mit 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit verabschiedet. Was ist Ihre persönliche Maßnahme, um nicht einsam zu sein?
 
Lisa Paus: Meine Strategie ist, sich zu überlegen: Was möchte ich denn gerne? Wie stelle ich es mir im Alter vor? Mit der Alleinerziehenden-WG habe ich gute Erfahrungen gemacht. In einem neuen Lebensabschnitt wird es neue Konstellationen geben. Ich kann mir auch im Alter ein Zuhause mit Gleichgesinnten, auch über mehrere Generationen hinweg, vorstellen.
 
SPIEGEL: Frau Paus, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.