Welt am Sonntag: Sie sind seit dem Tod Ihres Partners alleinerziehende Mutter eines 13-jährigen Sohnes. Ist das heute leichter als vor 30 Jahren?
Lisa Paus: Es ist definitiv leichter. Bis in die 60er-Jahre hätte ich als Alleinerziehende mein Kind nur mit Zustimmung des Jugendamts behalten dürfen. Der Verband der Alleinerziehenden hat in diesem Zusammenhang viele Verbesserungen erkämpft.
Welt am Sonntag: Die Ampel hat sich vorgenommen, die gleichberechtigte Elternschaft nach einer Trennung zu fördern. Welchen Reformbedarf sehen Sie?
Lisa Paus: Konflikte gibt es ja meist nicht nur ums Sorgerecht, sondern auch wegen finanzieller Aspekte. Um die Situation der Trennungsfamilien zu erleichtern, haben wir im Koalitionsvertrag verabredet, den Mehrbedarf stärker zu berücksichtigen. Der entsteht ja zum Beispiel dadurch, dass zwei Haushalte nötig werden und dass die Kinder in beiden Wohnungen ein Kinderzimmer brauchen.
Welt am Sonntag: Am Anfang freuen sich ja alle erst einmal auf das neue Familienglück und erwarten kein Scheitern. Was haben Sie für junge Familien in petto?
Lisa Paus: Wir wollen ein Partnerschaftspaket schnüren, das eine zweiwöchige bezahlte Auszeit nach der Geburt und einen zusätzlichen Partnermonat in der Elternzeit enthalten soll. Auch der Kündigungsschutz soll verbessert werden, damit Müttern und Vätern nicht gleich nach der Rückkehr aus der Elternzeit gekündigt werden kann. Das kommt leider wirklich vor.
Welt am Sonntag: Justizminister Marco Buschmann (FDP) hat eine "Zeitenwende im Familienrecht" versprochen. Sie selbst reklamieren für sich, das "Gesellschaftsministerium" zu leiten. In welcher Konkurrenz stehen Sie zu Buschmann?
Lisa Paus: In gar keiner. Wir arbeiten sehr gut zusammen und bringen jetzt einiges gemeinsam auf den Weg. Zum Beispiel die Abschaffung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch. Im Bereich der gesellschaftlichen Veränderungen gibt es besonders viel Übereinstimmungen innerhalb der Koalition. Wir wollen es den Bürgerinnen und Bürgern, die es jetzt noch unnötig schwer haben, ermöglichen, passgenauere Lösungen für ihr Leben zu finden.
Welt am Sonntag: Wem denn zum Beispiel?
Lisa Paus: Wir werden zum Beispiel das in Teilen verfassungswidrige Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Damit wird es möglich sein, seinen Personenstand entsprechend der selbst empfundenen Geschlechtsidentität ändern zu können. Bisher müssen sich transgeschlechtliche Menschen Gutachten unterziehen und werden damit unnötig drangsaliert. Das ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar.
Welt am Sonntag: Die Debatte über dieses Selbstbestimmungsgesetz tobt bereits - vor allem, weil auch Jugendliche ab 14 Jahren ohne Einwilligung ihrer Eltern ihren Geschlechtseintrag ändern können sollen. Viele sorgen sich, dass pubertierende Jugendliche vorschnell eine Entscheidung treffen, die sie später bereuen. Teilen Sie die Sorge?
Lisa Paus: Natürlich verstehe ich, dass es Menschen gibt, die sich hier Sorgen machen. Es ist wichtig, diesen Punkt gut zu durchdenken und Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Jugendliche und Eltern zu einer guten Entscheidung kommen können. Wir werden in den nächsten Tagen die Eckpunkte zu dem Gesetz vorlegen, dann können wir die Details in aller Ruhe diskutieren
Welt am Sonntag: Für Kontroversen sorgt auch die von Ihnen unterstützte Berufung der Journalistin Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten. Sie ist durch stark zugespitzte Äußerungen aufgefallen, sie hat Deutsche durchaus unfreundlich als "Kartoffeln" bezeichnet. Ist jemand, der derart polarisiert, geeignet für das Amt?
Lisa Paus: Ich finde Frau Ataman großartig, weil sie sehr differenziert und tiefgehend die gesamte Thematik der Antidiskriminierung durchdringt. Und ich muss Sie korrigieren - die Äußerungen, an denen jetzt eine Debatte über sie aufgehängt wird, hat sie so gar nicht getroffen. Vielmehr hat Frau Ataman sie in einer Kolumne thematisiert. Sie wissen selbst, dass man in dieser journalistischen Form auch mal auf die scharfe Pointe hinarbeitet.
Welt am Sonntag: Aber die Antidiskriminierungsbeauftragte müsste für ihr Anliegen werben, nicht Leute vor den Kopf stoßen.
Lisa Paus: Ferda Ataman wird sich für eine offene Gesellschaft stark machen, und ich bin überzeugt, dass sie viel bewegen wird. Viele haben ihre Nominierung begrüßt, wie der Deutsche Frauenrat, der Lesben- und Schwulenverband und zahlreiche Migrantenorganisationen. Jetzt wird ihr vorgehalten, dass sie ihre Tweets gelöscht hat. Aber das ist doch gerade Ausdruck für den Rollenwechsel, den sie vornimmt. Sie macht auch bei Twitter einen Neustart.
Welt am Sonntag: Eines Ihrer zentralen Projekte ist die Bekämpfung der Kinderarmut durch eine Kindergrundsicherung. Was kann eine solche Grundsicherung, was bisherige familienpolitische Leistungen nicht können?
Lisa Paus: Die Kindergrundsicherung ist eine kindbezogene Leistung, die unabhängig von der Familienkonstellation allen Kindern gewährt wird. Sie wird Kinder aus der Armut holen. Gegenwärtig ist es so, dass etwa der Kinderzuschlag für Geringverdiener extra beantragt werden muss und dass das Verfahren dafür extrem bürokratisch ist. Die Folge: Nur etwa 30 Prozent der Berechtigten nehmen ihn überhaupt in Anspruch. Das trägt zu verdeckter Kinderarmut bei. Mit der Kindergrundsicherung setzen wir genau da an. Sie soll automatisch ausgezahlt werden - auf welchem Weg und in welcher Höhe, darüber beraten wir gerade. Die Kindergrundsicherung wird einen Garantiebetrag und einen einkommensabhängigen Zusatzbetrag enthalten. Um die konkreten Summen zu ermitteln, arbeiten wir eng mit dem Arbeits- und Sozialministerium zusammen. Wir wollen im Herbst 2023 das Gesetzgebungsverfahren starten.
Welt am Sonntag: Wirtschaftswissenschaftler rechnen bereits mit Kosten von 20 Milliarden Euro. Wie bringen Sie das einem FDP-Finanzminister bei, der die Schuldenbremse berücksichtigen muss?
Lisa Paus: Die Kindergrundsicherung ist das zentrale sozialpolitische Vorhaben dieser Koalition. Darauf haben sich alle geeinigt, das muss funktionieren, gerade in diesen Krisenzeiten. So banal es klingt: Kinder sind unsere Zukunft.
Welt am Sonntag: Die Kitas waren in der Corona-Krise sehr gefordert. Viele Kinder sind in ihrer Entwicklung stark zurückgefallen. Müssen sie im nächsten Winter wieder unter Isolation leiden, damit die Erwachsenen sich besser geschützt fühlen?
Lisa Paus: Ich bin sehr froh, dass sich Bund und Länder einig sind: Schulen und Kitas sollen grundsätzlich offen bleiben. Das darf keine Parole bleiben. Aus der Corona-Kita-Studie wissen wir, dass die Ansteckungsquote in den Kitas unter der Ansteckung in den Familien liegt. Maßnahmen wie das Maskentragen sind wirkungsvoll. Und wir wissen, wie sehr die Lockdowns den Kindern geschadet haben: Wenn früher jedes zehnte Kind depressiv war, dann ist es heute jedes vierte! Anorexie und Adipositas haben zugenommen, der Förderbedarf ist drastisch gestiegen. Kinder haben unter den Corona-Maßnahmen massiv gelitten. Wir können die Pandemiebekämpfung nicht weiter zulasten der Kinder betreiben. Das macht eine ganze Generation kaputt.