Der Tagesspiegel Lisa Paus: "Wir leben nach wie vor im Patriarchat"

Porträt Lisa Paus von der Seite
Bundesfamilienministerin Lisa Paus © Laurence Chaperon

Der Tagesspiegel: Frau Paus, wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Sie als Mädchen anders behandelt werden als Jungen?

Lisa Paus: Schon sehr früh. Ich habe zwei ältere Brüder, und meine Eltern haben mehr oder weniger an dem Tag, an dem ich geboren wurde, gemeinsam eine Maschinenbaufirma gegründet. In diesem klassisch männlich geprägten Umfeld bin ich aufgewachsen. Es gibt Fotos von mir als kleines Mädchen, auf denen ich auf Baggern sitze. Aber wenn wir Kinder auf Messen helfen durften, wollten die Kunden von meinen Brüdern Prospekte, von mir Kaffee und Würstchen.

Der Tagesspiegel: Wie sind Sie damit umgegangen?

Lisa Paus: Ich habe das in der Familie angesprochen. Mir haben dann auch alle recht gegeben, aber genutzt hat es nichts. Wir konnten ja nicht das Verhalten der Kundinnen und Kunden ändern.

Der Tagesspiegel: Sind Ihre Brüder auch zu Hause anders behandelt worden als Sie?

Lisa Paus: Nein. Natürlich hatte ich die üblichen Kabbeleien mit meinen Brüdern, aber meine Mutter hat mir den Rücken gestärkt. Sie hat immer gesagt: "Lass dir nichts vormachen, du hast die gleichen Rechte." Sie ist Jahrgang 1935 und gehört von daher eigentlich zur klassischen westdeutschen Hausfrauengeneration. Sie ist aber nicht typisch dafür, hatte früh einen Führerschein und war fast durchgängig berufstätig.

Der Tagesspiegel: Hat das Phänomen, als Frau allein unter Männern zu sein, für Sie später noch einmal eine Rolle gespielt?

Lisa Paus: Ja, als ich überlegt habe, Maschinenbau zu studieren. Man muss damit umgehen können, in einen Hörsaal hereinzukommen und nur wegen des Geschlechts sofort aufzufallen. Am Ende habe ich mich für Volkswirtschaftslehre entschieden.

Der Tagesspiegel: Sie wollten keine einzelne Frau in einer Männerwelt sein?

Lisa Paus: In meiner Wahrnehmung gab es damals eine Frauenwelt und eine Männerwelt und nur wenige Möglichkeiten, diese beiden miteinander zu verbinden. Ich fand, dass keines der beiden Rollenbilder für mich passte. Deswegen bin ich Mitglied bei den Grünen geworden, der einzigen Partei, die die paritätische Quote hatte und für Gleichstellung in allen Bereichen eintrat.

Der Tagesspiegel: Wann haben Sie den Frauentag zum ersten Mal wahrgenommen?

Lisa Paus: Das war 1988, als ich nach Berlin gekommen bin. Hier war es üblich, dass Männer Frauen am Internationalen Frauentag Blumen geschenkt haben. Für mich war das, wie für viele Westdeutsche, etwas ungewohnt.

Der Tagesspiegel: Heute sind Sie als Frauenministerin qua Amt für die Frauen in diesem Land zuständig. Der Streit geht schon los bei der Frage, was eigentlich eine Frau ist. Wie definieren Sie das?

Lisa Paus: Eine Frau ist eine Person, die sich selbst als Frau identifiziert.

Der Tagesspiegel: Diese Definition ist allerdings sehr umstritten.

Lisa Paus: Auch das Bundesverfassungsgericht hat mehrmals geurteilt, dass die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen nicht allein nach den äußerlichen Geschlechtsmerkmalen zum Zeitpunkt seiner Geburt bestimmt wird, sondern wesentlich auch von seiner nachhaltig selbst empfundenen Geschlechtlichkeit abhängt. Und damit es transgeschlechtliche Menschen in Zukunft leichter haben, ihren Geschlechtseintrag zu ändern und dafür keine langwierigen und erniedrigenden Begutachtungen mehr über sich ergehen lassen müssen, ist es wichtig, das bisherige Transsexuellengesetz abzuschaffen und das Selbstbestimmungsgesetz einzuführen. Aus meiner Sicht sind Transrechte Menschenrechte, und das ist wirklich überfällig.

Der Tagesspiegel: Ist es vorstellbar, dass wir in 50 Jahren die Welt nicht mehr nur in weiblich und männlich trennen?

Lisa Paus: Richtig ist, dass sich für die allermeisten Menschen die geschlechtliche Einordnung als Junge oder Mädchen bei der Geburt richtig anfühlt. Richtig ist aber auch, dass es immer schon transgeschlechtliche Personen gegeben hat, für die die ursprüngliche Einordnung bei der Geburt nicht passt. Mit dem neuen Gesetz wollen wir in Deutschland nachvollziehen, was es in anderen Ländern wie etwa in Argentinien seit über zehn Jahren gibt.

Der Tagesspiegel: Bräuchte es konsequenterweise Gendersternchen im Namen Ihres Ministeriums?

Lisa Paus: Mein Ministerium hat zwar bereits vier Buchstaben für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Aber eigentlich bräuchte es noch weitere, zum Beispiel D für Demokratieförderung oder V wie Vielfalt. Deshalb spreche ich lieber vom Gesellschaftsministerium. Das Gendersternchen benutze ich. So wie ich mich grundsätzlich um eine inklusive Sprache bemühe, die alle Menschen und Gruppen einbezieht.

Der Tagesspiegel: Wenn Sie es entscheiden könnten, würden Sie im Namen Ihres Ministeriums lieber von Senior*innen sprechen?

Lisa Paus: Nein, da gelten die Regeln der Bundesregierung. Entscheidend ist und bleibt, bei den Frauenrechten erst einmal die ganz großen Themen anzugehen, wie das Recht auf Schutz vor Gewalt oder die ökonomische Gleichstellung von Frauen. Hier ist mein Haus sehr aktiv.

Der Tagesspiegel: Zu Ihrem Amtsantritt haben Sie sich als "klare Feministin" bezeichnet. Was heißt das?

Lisa Paus: Ungleichheit und Diskriminierung sind kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem, das wir auch strukturell lösen müssen. Dafür setze ich mich ein, mit allen Hebeln, die mir zur Verfügung stehen. Deswegen spreche ich auch vom Patriarchat, in dem wir nach wie vor leben und von dem wir uns verabschieden müssen.

Der Tagesspiegel: Woran machen Sie fest, dass wir in einem Patriarchat leben, und woran würden wir merken, wenn es nicht mehr so wäre?

Lisa Paus: Für mich ist das Patriarchat vorbei, wenn Frauen ökonomisch und politisch gleichgestellt sind, die Hälfte der Macht den Frauen gehört und geschlechtsspezifische Gewalt nicht als individuelle Tat verharmlost wird, sondern als patriarchales Denk- und Verhaltensmuster anerkannt und geahndet wird. Diesem Denkmuster zufolge besitzt der Mann die Frau und kann nicht zulassen, wenn sie ihn verlässt. Die Folge: An jedem dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.

Der Tagesspiegel: Läuft in der Erziehung von Jungs etwas falsch?

Lisa Paus: Oft werden Jungen festgelegt auf bestimmte Verhaltensweisen: Sie weinen nicht, bezahlen Mädchen das Kino und gelten als Technik- und Auto-interessiert. Als mein Sohn in der Kita war, fand ich es erschreckend, wie die Kinderwelt von vielen Spielwarenherstellern wieder in Rosa und Hellblau aufgeteilt wird. Das war anders, als ich ein Kind war, und ich dachte, wir hätten das überwunden.

Der Tagesspiegel: Sie waren im Januar 2009, als Ihr Sohn zur Welt kam, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Im Herbst sind Sie in den Bundestag gewechselt. Wie war das für Sie, als Mutter in der Politik?

Lisa Paus: Es gab damals fraktionsübergreifend mehrere Frauen, die ihre Babys mit zur Arbeit brachten. Walter Momper war damals Präsident des Abgeordnetenhauses, der hat mit dem Thema noch gefremdelt. Und dann gab es plötzlich in einer Boulevardzeitung ein großes Foto von den Babys im Plenarsaal. Dabei wurde dann auch noch der falsche Mann zum Vater meines Sohnes erklärt. Das sorgte kurz für Aufsehen und Getuschel, ließ sich aber schnell aufklären.

Der Tagesspiegel: Frau Paus, kommen wir zu konkreten Streitfragen. Die Koalition hat sich vorgenommen, die Besteuerung von Familien zu reformieren. Welches Modell fänden Sie fair?

Lisa Paus: Fair wäre ein Steuersystem, das nicht die Ehe, sondern die Familie fördert. Wie Sie wissen, hat die Koalition nicht vereinbart, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Allerdings gehen wir in diesem Jahr die Auflösung der Kombination von Steuerklasse drei und fünf an. Das ist wichtig, weil sich das positiv auf dem Lohnzettel auswirkt, also netto mehr übrig bleibt.

Der Tagesspiegel: Zum Thema Paragraf 218 tagt bald eine Kommission. Sie persönlich sind dafür, den Paragrafen zu streichen. Warum?

Lisa Paus: Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch sind höchst individuelle Angelegenheiten. Jede Frau hat das Recht, selbst darüber zu entscheiden. Natürlich geht es um eine Abwägung von Grundrechten, aber die sollte nicht im Strafrecht stattfinden.

Der Tagesspiegel: Das heißt, ersatzlos abschaffen wollen Sie den Paragrafen nicht?

Lisa Paus: Aus meiner Sicht brauchen wir eine zeitgemäße Regelung außerhalb des Strafrechts wie zum Beispiel in den Niederlanden. Aber gerade zu dieser und anderen komplexen Fragen setzen wir eine Expertinnen- und Expertenkommission zu reproduktiven Rechten ein, der ich nicht vorgreifen möchte.

Der Tagesspiegel: Kürzlich wurden Sie scharf dafür kritisiert, dass Ihr Ministerium die "Meldestelle für Antifeminismus" der Amadeu-Antonio-Stiftung mit Geld fördert. Schadet ein solches Portal nicht mehr als es nützt, weil es Positionen verschiedener Lager verfestigt?

Lisa Paus: Hier möchte ich zunächst etwas klarstellen: Antifeminismus ist mehr als eine kritische Haltung gegenüber dem Feminismus. Dem Antifeminismus liegt die Vorstellung zugrunde, dass Frauen in einer sogenannten 'natürlichen Ordnung' Männern untergeordnet sind. Diese Überzeugung knüpft an Rassismus und Rechtsextremismus als Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an, die auch nicht alle Menschen als gleichwertig anerkennen. Erschreckend ist, wie weit inzwischen antifeministische Einstellungen verbreitet sind. Damit geht auch ein erhebliches Mobilisierungspotenzial einher.

Der Tagesspiegel: Der Vorwurf ist, dass so ein Portal zum Online-Pranger werden kann.

Lisa Paus: Das ist falsch. Es ist ja gerade kein Portal, dass die Täter erfasst, sondern eine Meldestelle für Betroffene in Verantwortung der Trägerin. Die Namen der Täter sollen explizit nicht genannt werden, wenn doch, werden die Daten gelöscht. Es geht darum, einen Überblick über die Verbreitung und die Erscheinungsformen von Antifeminismus zu erhalten. Es ist ein Modellprojekt im Aufbau, um bessere Einblicke zu bekommen in Sachen Hass gegen Frauen. Lassen Sie doch erst einmal die Meldestelle ein Jahr arbeiten, und dann schaut man auf die Ergebnisse und kann sich eine solide Meinung bilden.

Der Tagesspiegel: Bei der Kindergrundsicherung gibt sich Christian Lindner vorerst stur. Haben Sie Verbündete in der FDP für das Thema?

Lisa Paus: Auch die FDP sagt, dass die Kindergrundsicherung kommen muss. Sie ist das wichtigste sozialpolitische Projekt dieser Regierung, und ich bin zuversichtlich, dass der Koalitionsvertrag eingehalten wird. Ich bin mir sicher, dass auch die FDP die strukturell verfestigte Kinderarmut in Deutschland wirksam bekämpfen will. Kinderarmut beeinträchtigt Lebens- und Bildungschancen enorm. Kinder sind unsere Zukunft und die Fachkräfte von morgen. Das weiß auch die FDP.

Der Tagesspiegel: Wenn es bei der Blockade durch die FDP bleibt, ist dann die Koalition am Ende?

Lisa Paus: An dem Thema Kindergrundsicherung sind auch eine Reihe von SPD-Ministerien beteiligt und natürlich auch das Bundeskanzleramt. Ich bin sicher, dass eine Mehrheit der Bevölkerung möchte, dass wir das Problem strukturell verfestigter Kinderarmut gemeinsam lösen und nicht endlos darüber streiten. Dauerhafter Streit kommt nicht gut an in der Bevölkerung. Und es gibt viel Unterstützung auch aus Kommunen, Sozialverbänden, Gewerkschaften. Die Unterstützung wird von Woche zu Woche größer.

Der Tagesspiegel: Ist es unredlich von Christian Lindner, zu behaupten, es gebe kein Konzept?

Lisa Paus: Es gibt sehr wohl ein Konzept, das inzwischen sogar allgemein bekannt ist. Die Arbeitsgruppe aus sieben Ministerien, unter anderem auch das Finanzministerium, hat acht Monate lang getagt. Im Januar haben wir ein Eckpunktepapier zur Abstimmung an die beteiligten Ministerien gegeben. Richtig ist: Wir sind uns über das Konzept noch nicht einig und die Zeit drängt, daher müssen alle verantwortlichen Ebenen zügig konstruktiv die Kindergrundsicherung begleiten. Es ist ein sozial- und digitalpolitisches Großprojekt.

Der Tagesspiegel: Sie veranschlagen zwölf Milliarden Euro für Ihr Vorhaben. Könnte es stattdessen eine "Kindergrundsicherung light" geben, die weniger kostet?

Lisa Paus: Wir können nicht hinnehmen, dass 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet sind und sich nicht trauen, Freundinnen und Freunde zum Spielen nach Hause einzuladen, weil sie sich für ihre Wohnung schämen oder ausgelacht werden, weil die Winterjacke nicht nur gebraucht, sondern verschlissen ist. Deshalb sind wir gut beraten, eine Kindergrundsicherung zu machen, die tatsächlich gegen Kinderarmut wirkt. Wir haben den Bedarf dafür berechnet, da kann man nicht beliebig kürzen. Und ich habe Vorschläge zur Gegenfinanzierung gemacht. Die von der FDP geforderten Steuersenkungen würden weit mehr kosten als die zwölf Milliarden Euro, die wir für die Kindergrundsicherung angemeldet haben. Es geht auch nicht darum, ob wir die Schuldenbremse einhalten oder nicht. Es geht um die Frage, welche Prioritäten wir setzen. Wenn 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland arm oder armutsgefährdet sind, ist meine Priorität klar. Eine weitere Entlastung der Einkommensspitze dagegen ist in der aktuellen Krisensituation schwer vermittelbar.

Der Tagesspiegel: Wir leben in Kriegs- und Krisenzeiten. Was wünschen Sie sich unter diesen Umständen zum Frauentag?

Lisa Paus: Wir sollten vor allem auf die schutzbedürftigen Gruppen schauen, das sind in allen Gesellschaften die Frauen und Kinder. Derzeit betrifft es besonders die geflüchteten Frauen und Kinder aus der Ukraine. Wir müssen ihnen Sicherheit geben, sie materiell unterstützen, ihre Lebensbedingungen stabilisieren und ihnen Perspektiven für die Zukunft geben. Auch mit den mutigen Frauen im Iran müssen wir weiter Solidarität zeigen. Es sind vor allem Frauen, die die Gesellschaft zusammenhalten und stärken. Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.